Mit „Der Trafikant“ in die neue Spielzeit

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„Der Trafikant“, die Bühnenfassung nach dem gleichnamigen Roman und Bestseller von Robert Seethaler, eröffnete vor wenigen Wochen im Wolfgang Borchert Theater die neue Saison 2022/23 und positioniert das WBT einmal mehr als gesellschafts-kritische Bühne. Ein kluger Startschuss und wunderbarer Auftakt. Weitere Termine im Oktober und November.

Mit „Der Trafikant“ in die neue Spielzeit

“Der Trafikant” im Wolfgang Borchert Theater mit Alessandro Scheuerer und Jürgen Lorenzen – Foto Annika Bade

Das Stück ist inmitten unserer von heftigen Verwerfungen gezeichneten Zeit (Energiekrise, Gasknappheit, Inflation und mehr) ein klares Bekenntnis dafür, die Augen offen zu halten und den eigenen Kopf zu bemühen, um nicht auf die aktuell wieder aufkeimenden rechten und populistischen Bewegungen hereinzufallen.

“Der Trafikant” im Wolfgang Borchert Theater mit Alessandro Scheuerer und Rosana Cleve – Foto Annika Bade

Franz Huchels „Fingerzeig“ und politisches Bekenntnis in „Der Trafikant“ ist durchaus als Mahnung und Ermutigung zu verstehen. Es gilt denen beherzt entgegen zu treten, die aktuell bereits wieder ihr rechtes Süppchen kochen und bei ihren “Spaziergängen” auf der Straße den vermeintlichen „Volkszorn“ schüren, um einen radikalen Systemwechsel zu propagieren und die Demokratie ins Wanken zu bringen. Wehret den Anfängen!

Mit „Der Trafikant“ in die neue Spielzeit

“Der Trafikant” im Wolfgang Borchert Theater mit Florian Bender und Erika Jell – Foto Annika Bade

Unter der Regie von Tanja Weidner stehen die Ensemble-Mitglieder Florian Bender, Rosana Cleve, Erika Jell, Ivana Langmajer, Jürgen Lorenzen und Alessandro Scheuerer sowie als Gastschauspieler Gregor Eckert auf der Bühne. Tanja Weidner gelingt es überzeugend die komplexe Geschichte und das komprimierte Geschehen mit seinen vielen Orts- und Szenenwechseln auf die Bühne zu bringen. Nicht zuletzt arbeiten ihr ein wunderbar reduziertes und funktionales Bühnenbild mit geschickt eingesetzten Projektionsflächen zu. Das Zeitgeschehen ist die Folie für die Lebensgeschichte des jungen Franz und umgekehrt: Das Private ist politisch, das Politische ist privat. Das historische Geschehen wird nur angedeutet. Jeder im Saal weiß, für was die eingespielten Filmschnipsel und Fotos stehen. Für Naturalismus ist kein Platz.

“Der Trafikant” im Wolfgang Borchert Theater mit Alessandro Scheuerer und Florian Bender – Foto Annika Bade

Alle Rollen in „Der Trafikant“ sind hervorragend besetzt und das Ensemble agiert bis in die kleinsten Bewegungen und Gesten mit bewunderungswürdigem Einfühlungsvermögen. Florian Bender und Erika Jell schlüpfen in bewährter WBT-Manier in gleich mehrere, kleinere Rollen. Gregor Eckert war zuletzt in „The Black Rider – The Casting of the Magic Bullets“ als Wilderer und Kätchens Verehrer Robert zu sehen. Er hinterlässt neben Alessandro Scheuerer als Franz den nachhaltigsten Eindruck des Abends. Faszinierend und überzeugend gespielt!

Mit „Der Trafikant“ in die neue Spielzeit

“Der Trafikant” im Wolfgang Borchert Theater mit Gregor Eckert, Erika Jell, Alessandro Scheuerer und Florian Bender – Foto Annika Bade

„Der Trafikant“ spielt in Wien zur Zeit des sogenannten Anschlusses Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland. Längst wehen Hakenkreuzfahnen von allen öffentlichen Gebäuden und beherrschen die Braunhemden die Straßen der Hauptstadt. Die historischen Ereignisse spiegeln sich in der Geschichte des 17-jährige Franz Huchel (sensibel verkörpert von Alessandro Scheuerer), der von seiner Mutter (Ivana Langmajer) in die Lehre bei einem Bekannten in die österreichische Hauptstadt geschickt wird.

Mit „Der Trafikant“ in die neue Spielzeit

“Der Trafikant” im Wolfgang Borchert Theater mit Florian Bender und Gregor Eckert – Foto Annika Bade

Otto Trsnjek (Gregor Eckert in der Rolle des kritischen, sarkastischen und wunderbar grantelnden Kriegsinvaliden) führt dort seine Trafik, eine Art Kiosk, in der neben Zeitungen und Zeitschriften, auch Schreibwaren sowie Zigaretten und Zigarren und unter der Ladentheke auch mal „Heftchen“ mit frivolen Bildchen verkauft werden.

Mit „Der Trafikant“ in die neue Spielzeit

“Der Trafikant” im Wolfgang Borchert Theater mit Rosana Cleve und Florian Bender – Foto Annika Bade

Der Trafikant nimmt den unbedarften Jungen aus der Provinz unter seine Fittiche und führt ihn mit strenger Hand in die Arbeit und klaren Positionen in das politische Geschehen ein. Otto Trsnjek fordert von seinem Lehrling alle Publikationen mit kritischem Verstand vorab zu lesen, ehe er diese an seine Kundschaft verkauft. Das gründliche Studium der Zeitungen wird zum unentbehrlichen Mittel, um das Chaos in der Welt zu durchschauen und die aktuelle Politik zu verstehen.

Seine wechselvollen, teils rätselhaften, teils schmerzhaften Erfahrungen in der Hauptstadt reflektiert Franz in einem Briefwechsel mit seiner Mutter. Ihr erzählt er, was er erlebt, wie er langsam in der Stadt erwachsen wird und zu seinem Standpunkt findet. Der Briefwechsel überbrückt dramaturgisch die Zeitsprünge und treibt das Geschehen voran.

“Der Trafikant” im Wolfgang Borchert Theater mit Florian Bender, Erika Jell und Alessandro Scheuerer – Foto Annika Bade

Otto Trsnjek macht keinen Hehl daraus, auf wessen Seite er steht und für welche politische Richtung sein Herz schlägt. Sein kritischer Blick überträgt sich auf seinen Lehrling und Ziehsohn Franz Huchel. Er lehrt den Jungen alles über die Verkaufswaren der Trafik: Über die Qualität von guten Zigarren, überregionale Presseerzeugnisse und den Umgang mit Kunden. Und zu letzteren gehört eine der berühmtesten Persönlichkeiten der Stadt: Dr. Sigmund Freud. Darsteller Jürgen Lorenzen verkörpert den Begründer der Psychoanalyse kongenial und mit atemberaubender Authentizität. Lorenzen ist Freud!

Mit „Der Trafikant“ in die neue Spielzeit

“Der Trafikant” im Wolfgang Borchert Theater mit Alessandro Scheuerer und Jürgen Lorenzen – Foto Annika Bade

Es entsteht eine ungleiche Freundschaft, die für Franz sehr wichtig wird: Denn die Gefühlswelt des pubertierenden Jungen steht vollkommen Kopf, als er im Wiener Nachtleben die Tänzerin Anezka (Rosana Cleve) kennenlernt und sich in die erotische Frau aus Böhmen verliebt. Wann immer sich die Gelegenheit ergibt, stellt Franz die bestellten Zigarren persönlich in der Berggasse 19 zu, um mit Freud im Gespräch zu bleiben und sich den persönlichen Rat des „Deppendoktors“ einzuholen. Der rät ihm, ein Traumtagebuch zu führen und sich alle seine Träume zu notieren.

Der Trafikant wird von der Gestapo verhaftet und eingesperrt. Ein Denunziant – vermutlich der Metzger aus der Nachbarschaft – hat ihn wegen seiner kritischen Meinung und antifaschistischen Äußerungen angezeigt. Außerdem verkauft er seine Waren weiter an Juden – zu denen auch sein Stammkunde, der Psychoanalytiker Sigmund Freud gehört.

Mit „Der Trafikant“ in die neue Spielzeit

“Der Trafikant” im Wolfgang Borchert Theater mit Jürgen Lorenzen, Alessandro Scheuerer und Gregor Eckert – Foto Annika Bade

Als Franz erfährt, dass sein Mentor und Ziehvater Otto Trsnjek während seiner Gefangenschaft in der Gestapo-Zentrale ums Leben gekommen – vermutlich ermordet worden ist, setzt er ein Zeichen: Er hisst vor der Gestapo-Zentrale die Hose des einbeinigen Invaliden, die wie ein „Fingerzeig“ als politisches Statement im Wind weht. Auch er wird daraufhin von den Nazis verfolgt…

„Der Trafikant“ ist eine Geschichte über die erste Liebe und die aufkeimende Sexualität in einer Zeit, in der politische Extremisten immer größeren Zulauf bekommen und das Politische in tätlichen Angriffen übergeht – auch in der Trafik von Otto Trsnjek.

Das Drama um Franz Huchel umspannt mehrere Jahre, fast ein Jahrzehnt bis zum Jahr 1938 und spiegelt im Privaten das große Zeitgeschehen vom Aufkommen des Faschismus in Österreich bis zum beginnenden Untergang. Franz muss beispielsweise miterleben wie Freud ohne sich von ihm zu verabschieden nach London auswandert und sein Versuch mit Anezka eine Beziehung aufzunehmen in einem Desaster endet. Anezka hat sich mit einem Nationalsozialisten zusammengetan. Was aus Franz am Ende wird, bleibt offen – es muss offen bleiben. Die Geschichte kennt – durchaus im doppelten Sinne – kein Happy End. (Jörg Bockow)

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