„Herzfaden“ am Borchert Theater in Münster

„Herzfaden“, heißt die neue Produktion am Wolfgang Borchert Theater in Münster. Sie hatte in der vergangenen Woche ihre gefeierte Premiere. Für das Stück ist Meinhard Zanger, der langjährige Intendant als Autor und Regisseur einmal wieder aktiv zurück ans WBT.

„Herzfaden“ am Borchert Theater in Münster

“Herzfaden” nach dem gleichnamigen Roman von Thomas Hettche am Wolfgang Borchert Theater mit Katharina Hannappel, Tara Oestreich, Florian Bender und Edina Hojas – Foto Laura Ritter

Zanger hat in den vergangenen Monaten die Bühnenadaption des gefeierten Romans von Thomas Hettche geschrieben. Die letzten Szenen wurde erst wenige Tage vor der ersten Probe – just in time – vollendet, da saß das Ensemble bereits auf heißen Kohlen, um endlich seinen Text lernen zu können.

Das Stück ist nach dem gleichnamigen Roman von Thomas Hettche entstanden, der 2020 auf der Shortlist für den Deutschen Literaturpreis und wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste stand. Das Wolfgang Borchert Theater ist das zweite Theater, das den gefeierten Roman in einer eigenen Fassung und Inszenierung auf die Bühne bringt.

“Herzfaden” nach dem gleichnamigen Roman von Thomas Hettche am Wolfgang Borchert Theater mit Florian Bender – Foto Laura Ritter

In „Herzfaden“ wird der Theaterbesucher in die fantastische und zauberhafte Welt der Augsburger Puppenkiste entführt. Mit den Stücken des Marionettentheaters verbinden viele von uns spannende Nachmittage vor dem heimischen Bildschirm. Denn über viele Jahre übertrug der Hessische Rundfunk ab Anfang der 60er Jahre die Märchen als Serien im deutschen Fernsehen. Gleich für mehrere Generationen sind die Geschichten von „Jim Knopf und Lukas“, „Der kleine dicke Ritter“, „Der Löwe ist los“, „Urmel aus dem Eis“ und „Räuber Hotzenplotz“ ein bis heute unvergessliches Erlebnis aus ihrer Kindheit, ja ein bedeutender Teil ihrer Sozialisation.

“Herzfaden” nach dem gleichnamigen Roman von Thomas Hettche am Wolfgang Borchert Theater mit Niclas Kunder und Katharina Hannappel – Foto Laura Ritter

Der Beginn des Stückes mag den Zuschauer an „Alice im Wunderland“ oder „Die unendliche Geschichte“ erinnern: Nach einer Aufführung der Augsburger Puppenkiste schlüpft ein Mädchen in der Jetztzeit durch eine Holztür auf einen geheimnisvollen Dachboden. Tausende Marionetten hängen dort unter der Decke und warten darauf einmal wieder auftreten zu dürfen. Im Licht der Taschenlampe ihres iPhones erwachen Jim Knopf, das Urmel, Prinzessin Li Si, Kalle Wirsch und Lukas, der Lokomotivführer, zum Leben.

„Herzfaden“ am Borchert Theater in Münster

“Herzfaden” nach dem gleichnamigen Roman von Thomas Hettche am Wolfgang Borchert Theater mit Katharina Hannappel und Edina Hojas – Foto Laura Ritter

Die bekannten Figuren treten als lebendige Personen auf, während das Mädchen auf die Größe der Marionetten schrumpft. Diese Verwandlung wird wunderbar umgesetzt, die Schauspieler (Edina Hojas, Florian Bender, Katharina Hannappel und Niclas Kunder) bewegen sich so als hingen sie als Marionetten tatsächlich an unsichtbaren Fäden.

„Herzfaden“ am Borchert Theater in Münster

“Herzfaden” nach dem gleichnamigen Roman von Thomas Hettche am Wolfgang Borchert Theater mit Florian Bender und Tara Oestreich – Foto Laura Ritter

Das Mädchen begegnet darüber hinaus auf dem Dachboden einer geheimnisvollen Frau, die sich als Hatü (großartig gespielt von Tara Oestreich), die längst verstorbene Hannelore Oehmichen, die Tochter des Erfinders des legendären Puppentheaters, Walter Oehmichen zu erkennen gibt. Sie hat all diese Puppen geschnitzt. Auf dem Dachboden hängt ihr Lebenswerk.

Hatü erzählt ihre Lebensgeschichte und die bewegte Geschichte des Puppentheaters. Es ist die Geschichte eines Märchens und zugleich Teil einer Höllengeschichte, denn die Erinnerungen führen mitten in die Zeit des Nationalsozialismus, in den Zweiten Weltkrieg und schließlich in die Zeit des Wiederaufbaus. Der Bogen wird weit gespannt: Von der anfänglichen Begeisterung für den Nationalsozialismus, der Irritation über die offenkundige Deportation von jüdischen Nachbarn und Bekannten bis zum Ausbruch des Krieges und dem unvermeidlichen Zusammenbruch.

“Herzfaden” nach dem gleichnamigen Roman von Thomas Hettche am Wolfgang Borchert Theater mit Florian Bender – Foto Laura Ritter

Hatü erinnert sich an ihren Vater Walter Oehmischen (einfühlsam und überzeugend von Florian Bender gespielt), der in einer Nacht im Bombenhagel sein geliebtes Theater und damit seine Existenz verliert. Der Vater muss in den Krieg. Es verschlägt ihn an die Ost-Front und schließlich nach Frankreich. Dort lernt er einen Puppenmacher kennen, der eine lebenslange Faszination für Marionetten auslöst. Als er mit zwei Marionetten vor seinen Kameraden spielt und diese zum Lachen bringt ist sein Entschluss gefasst: Wenn er nach dem Krieg wieder in Augsburg ist, wird er eine Bühne mit Marionetten aufbauen. Nicht so einfach, dafür braucht es die Kraft der ganzen Familie.

„Herzfaden“ am Borchert Theater in Münster

“Herzfaden” nach dem gleichnamigen Roman von Thomas Hettche am Wolfgang Borchert Theater mit Edina Hojas und Tara Oestreich – Foto Laura Ritter

Mitten im Zweiten Weltkrieg erleben Hatü und ihre Schwester Ulla (Katharina Hannappel) nach einer Zeit ihrer Begeisterung für das neue Leben in Deutschland auch Deportationen der Juden, Flucht und Zerstörung durch den Krieg. Die Bombennächte lassen die beiden Geschwister am immer wieder beschworenen Endsieg zweifeln.

Am Ende stehen sie und ihre Eltern mit dem Zusammenbruch vor dem Nichts, wollen sich mit der „Puppenkiste“ eine neue Existenz aufbauen. Der Vater kommt als gebrochener Mann aus der Gefangenschaft zurück. Ohne seine Frau und seine kreativen Töchter hätte er wohl niemals wieder ins Leben gefunden. Doch Kreativität und Fantasie ermöglichen einen Neuanfang.

„Herzfaden“ am Borchert Theater in Münster

“Herzfaden” nach dem gleichnamigen Roman von Thomas Hettche am Wolfgang Borchert Theater mit Katharina Hannappel und Edina Hojas – Foto Laura Ritter

Hatü erschafft unermüdliche neue Puppen, die für immer neue Stoffe eingesetzt werden. Die Augsburger Puppenkiste wird im Nachkriegsdeutschland zu einer gefeierten und erfolgreichen Bühne. In ihrer Erinnerung kommt Hatü allerdings auch langsam zu Bewusstsein, woher die beinahe lebenslange Angst vor der Figur des Kasperl, die sie selbst einmal geschaffen hat, rührt. Sie erkennt, dass sie das Gesicht dieser Figur als Fratze nach dem im Nationalsozialismus verbreiteten Zerrbild des „bösen Juden“ angelegt hat. Ein starkes Bild dafür wie stark sie schon als Kind von der rassistischen Ideologie beeinflusst war, dass so lange noch wirkt.

„Herzfaden“ am Borchert Theater in Münster

“Herzfaden” nach dem gleichnamigen Roman von Thomas Hettche am Wolfgang Borchert Theater mit Katharina Hannappel, Edina Hojas, Florian Bender und Tara Oestreich – Foto Laura Ritter

Meinhard Zanger gelingt es das vielschichtige Buch in rund 30 kleinen Szenen auf die Bühne zu bringen und die Geschichte der Augsburger Puppenkiste zwischen 1939 und 1961 zu einer bedrängenden Tour des Force durch die Zeit des Nationalsozialismus, durch den Horror des Zweiten Weltkrieges und das junge Nachkriegsdeutschland zu machen. Zugleich ist „Herzfaden“ ein Stück über das Theatermachen in schwierigen Zeiten, die Magie der Bühne und die Kraft der Fantasie.

Während aktuell da draußen populistischer Unsinn und rassistische Ideologien unsere politische Diskussion zunehmend zu beherrschen drohen – man denke nur an den Einzug von Donald Trump ins Weiße Haus, das Erstarken rechtsradikaler Parteien in Europa und den erschreckenden Aufstieg einer rechtsextremen Partei in Deutschland – erscheint „Herzfaden“ ganz und gar unaufdringlich als eine subkutane Mahnung doch endlich aus der Geschichte zu lernen. Die Inszenierung greift die epische und märchenhafte Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit des Romans auf und verwandelt sie in eine anspruchsvolle, mitunter auch anstrengende Dramaturgie, deren vielfältige Gedankenanstöße man sich allerdings kaum entziehen kann. In vielen Rückblenden wird die Vergangenheit lebendig.

„Herzfaden“ am Borchert Theater in Münster

“Herzfaden” nach dem gleichnamigen Roman von Thomas Hettche am Wolfgang Borchert Theater mit Edina Hojas, Tara Oestreich, Niclas Kunder, Florian Bender und Katharina Hannappel – Foto Laura Ritter

Es braucht in “Herzfaden” jeweils nur wenige Andeutungen, um die Fantasie der Zuschauer anzustoßen und sie in die eindringlichen Szenen zu verwickeln. Neben dem fantastisch spielenden Ensemble mit Edina Hojas, Tara Oestreich, Florian Bender, Katharina Hannappel, Niclas Kunder und Stephanie Rave, das wieder in verschiedene Rollen schlüpft, spielen einige Videoeinspieler, die als visuelle Dokumente die Vergangenheit aufleben lassen und vor allem die kongenial eingesetzte Musik von Stephanie Rave eine große Bedeutung. Die Musik- und Klangcollage von Stephanie Rave ist nicht nur das Verbindungselement der unterschiedlichen Erzählebenen, der Gedankensplitter und Szenen, sondern erzeugt darüber hinaus ein Tauchbad gemischter Gefühle. Der Bogen reicht von Angst und Bedrohung bis hin zu Begeisterung, Freude und Schwärmerei.

Meinhard Zanger hat die wechselnde Erzählperspektive des Romans in seine Dramaturgie übernommen. Sie springt mal aus der Gegenwart in die Vergangenheit und wieder zurück, fügt fantastische, märchenhafte Elemente ein. Mitunter hat man allerdings Schwierigkeiten dem Ganzen zu folgen, zumal Hatü als zentrale Erzählerin mal von Tara Oestreich und dann wieder von Edina Hojas gespielt wird. Am Abend der Premiere dauerte die Aufführung noch fast drei Stunden. Das war auch dem Regisseur ein bisschen zu lang, so dass er den zweiten Teil inzwischen ein bisschen gestrafft hat.

„Herzfaden“ ist inspirierendes Erzähltheater, das in einem Kaleidoskop von märchenhaften Szenen, kreativen Gedankensplittern und unterschiedlichen Erzählebenen die wechselvolle Geschichte der Augsburger Puppenkiste erzählt. Wunderbar inszeniert und großartig vom Ensemble gespielt. Sehenswert! Jörg Bockow

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