Stephanie Lake: „Manifesto“ in Recklinghausen

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Stephanie Lake zeigt ihr neues Tanzprojekt „Manifesto“ bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen. Eine gefeierte Europapremiere. Drei ausverkaufte Vorstellungen im Großen Haus. „Manifesto“ ist ein Event – eine „Symbiose aus gewaltigem, rohem Sound und wildem Tanz“, so wie es das Programmheft verspricht.

Stephanie Lake: „Manifesto“ in Recklinghausen

“Manifesto” von Stephanie Lake bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen – Foto Roy Van der Vegt

Das furiose Stück der renommierten Choreographin Stephanie Lake aus Melbourne ist während der Pandemie entstanden und sorgte bereits in Australien und überall wo es aufgeführt wurde für Furore und Begeisterung. In Recklinghausen reißt es das Publikum mit dem letzten Schlag und einem ekstatischen Finale förmlich aus den Sitzen.

„Manifesto“ ist ein knall-lautes, krachendes, kraftvolles Zusammenspiel zwischen Percussionisten und Tänzern. Auf der Bühne: Neun klassische „Schießbuden“ mit Bass, Snare, Tom Drums und Becken, von neun Schlagzeugerinnen und Schlagzeugern bis zur Schmerzgrenze gerührt. Sie interagieren mit neun Tänzerinnen und Tänzern, dass einem zwischendurch nicht nur ein Knalltrauma droht, sondern auch die Augen übergehen. So viel Bewegungen hat man heuer selbst in Recklinghausen noch nicht gesehen. So viel Rhythmus, Tempo und Lautstärke noch nicht gehört.

Mal fliegen, springen, laufen die Tänzer in hohem Tempo über die Bühne und finden sich immer wieder zu neuen Formationen und Bildern im Ensemble zusammen. Das Ensemble steht immer im Mittelpunkt und führt eine teilweise bizarre, martialische Choreographie auf. Anmutige Passagen wechseln zu kraftbetonten Bewegungen und umgekehrt.

Stephanie Lake: „Manifesto“ in Recklinghausen

“Manifesto” von Stephanie Lake bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen – Foto Roy Van der Vegt

Der Abend beginnt mit einzelnen plötzlichen Beats, die wie Kanonenschläge von allen Schlagzeugerinnen und Schlagzeugern synchron ausgeführt und über Lautsprecher noch einmal bis zur Schmerzgrenze verstärkt werden. Die Tänzerinnen und Tänzer, die im Halbrund auf Stühlen sitzen, lösen sich aus ihrer Erstarrung um kurze Gesten und dramatische Posen zu vollziehen. Nur Sekunden danach erstarren sie erneut als wäre ein Film angehalten worden.

Die Trommeln nehmen nach diesem Opening an Fahrt auf. Sie bringen damit das gesamte Ensemble in einer ballettartigen Sequenz auf die Beine so als wenn die Trommeln ihnen Beine machen und sie mit Energei versorgen würden. Es sind kriegerische Bilder, die sich zum Marschrhythmus auftun und innerhalb von Sekunden wieder vergehen. Es könnten Kämpfer und Heroen sein, die sich zu heroischen Standbildern und Denkmalen verbinden und dann wieder auflösen. Die Schlagzeuger marschieren voran – mal gemeinsam, dann wieder im akustischen Wechsel und im rasenden Takt von Links nach Rechts und von Rechts nach Links. Man traut seinen Ohren nicht mehr, es klingt als drehe der Tontechniker wie wild an seinem Balanceknopf.

Der Tanzabend von Stephanie Lake huscht quasi im Zeitraffer durch die Geschichte, zeigt Rebellion und Revolution, Aufstand, Krieg und Kampf, handelt von Freude, Staunen und Zärtlichkeit, aber auch von Trauer und Wut. Das Stück löst mit seinem energiegeladenen Bilderreigen so viel Adrenalin aus, dass zartbesaitete Zuschauer aus den Sitzreihen zu purzeln drohen.

Stephanie Lake: „Manifesto“ in Recklinghausen

“Manifesto” von Stephanie Lake bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen – Foto Roy Van der Vegt

Mal werden die Tänzer vom Rhythmus getrieben, mal scheinen sie die Musiker zu dirigieren und mit ihnen zu sprechen. Gerade wenn man denkt, dass sich ein aus Rhythmus und Tanz ein Muster herausbildet hat, ändert sich das Stück im atemberaubenden Tempo. Das Ensemble verschwindet urplötzlich auf der Seitenbühne . Darauf dominieren Einzeltänzer und kleine Formationen die Bühne. Körper winden und verknoten sich, tanzen zusammen als wären sie miteinander verschmolzen.

Das tänzerische Vokabular von Stephanie Lake umfasst klassisches Ballett, modernen Jazzdance und zeitgenössische Bodenarbeit. Jeder Tänzer geht an seine Grenzen und das Ensemble braucht ein schier unnglaubliches Bewegungsgedächtnis. Es kostet offensichtlich immens viel Kraft. Es gibt spektakuläre Stürze, hohe Sprünge und unglaubliche Fänge, in einem schnellen Wechsel von Akrobatik und Geschmeidigkeit. Alle Bewegungen, selbst kleinste Hand- und Fingerbewegungen, werden im Rhythmus der Schlagzeuge in einer Art Höllenritt ausgeführt, zwischendurch bringen fließende, anmutige Abläufe etwas Ruhe in das Stück. Stephanie Lake gönnt ihren Tänzern zwischendurch etwas Zeit und dem Publikum einen Moment, um einmal Atem zu holen.

Stephanie Lake: „Manifesto“ in Recklinghausen

“Manifesto” von Stephanie Lake bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen – Foto Roy Van der Vegt

Die Klänge und Rhythmen werden im Verlauf des Abends komplexer, zu rasenden Trommelwirbeln, sachten Schlägen und rollenden Trillern auf der kleinen Trommel. Das zarte Klirren der Becken und das Zischen der Snare suggerieren einen von Ferne aufziehenden Sturm. Zwischendurch lassen es die Schlagzeuger richtig krachen. Die Dramatik des Stückes erlebt zahlreiche Wechsel – ansonsten wären die 60 Minuten kaum zum Aushalten – weder für die Tänzer, noch für die Zuschauer.

Zum furiosen Schlussbild erzeugen die Schlagzeuger unglaubliche Klangmuster, sie enden in einem orgiastischen Krachen und Donner. Mehr Höhepunkt geht nicht. Dabei gerät das Blut in Wallung. Einer der Tänzer zertrümmert im eruptiven Höhepunkt einen der Stühle, die als Requisiten wieder auf der Bühne gefunden haben. Danach hält es niemanden mehr in den Sitzen.

Tosender Applaus als verdiente Belohnung! (Jörg Bockow)

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