Sasha Waltz über Freiheit und Demokratie

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Sasha Waltz setzt während der diesjährigen Ruhrfestspiele in Recklinghausen mit ihrer Choreographie „In C“ einen innovativen Impuls für das zeitgenössische Tanztheater. Jeder Abend wird zu einem aufregenden Ereignis. Es lotet auf künstlerischer und getanzter Ebene das demokratische Potential der individuellen Freiheit in Verbindung mit der Gemeinschaft aus.

Sasha Waltz über Freiheit und Demokratie

Das Ensemble “In C” entwickelt das Schlußbild – Foto Ursula Kaufmann

Die 14 Tänzerinnen und zwei Tänzer sind an diesem Mittwoch etwas langsamer als den Tag zuvor. Kein Wunder: Die Choreographie basiert auf einem Prozess. Jeder Tanzabend verläuft etwas anders, jede Aufführung ist ein Unikat. Einzigartig, rätselhaft und im doppelten Wortsinn: bewegend.

Sasha Waltz über Freiheit und Demokratie

Die Choreographie von Sasha Waltz oszilliert zwischen individueller Freiheit, Improvisation und festgelegten Formationen und Bewegungsabläufen – Foto Ursula Kaufmann

„In C“, das Tanzstück der weltbekannten Choreographin Sasha Waltz, bietet Raum für Improvisationen. Die Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer oszillieren zwischen der Freiheit des einzelnen Tänzers und festgeschriebenen Formationen, Läufen und choreographierten Bewegungen des Ensembles im Raum. Das intuitive Zusammenspiel kann als ein Paradigma für das gelingende Zusammenspiel einer demokratisch verfassten Gesellschaft verstanden werden. „In C“ von Sasha Waltz ist damit auch ein politisches Statement.

Jeder Tanzabend zur minimalistischen Musik von Terry Riley wird zu einem unvergleichlichen Ereignis. „In C“ ist eine farbenfrohe tänzerische Exkursion in die Welt der Minimal Music, die mit Terry Riley ab 1964 die Musikwelt eroberte. Das Stück ist jedes Mal aufs Neue, seit Sasha Waltz es 2021 entwickelt und choreographiert hat, ein kreativer Prozess mit zahlreichen Variationen und einem offenen Ausgang. Zwischen 50 und 53 Minuten lang. Jede Performance ist wegen der Improvisationen auch ein Experiment. So auch heuer, an diesem Mittwochabend bei den Aufführungen von „In C“ während der Ruhrfestspiele in Recklinghausen.

Sasha Waltz über Freiheit und Demokratie

Die Choreographie von Sasha Waltz oszilliert zwischen individueller Freiheit, Improvisation und festgelegten Formationen und Bewegungsabläufen – Foto Ursula Kaufmann

Die Musik von Terry Riley endet abrupt, damit kommt auch das junge Ensemble in kleinen Gruppen auf der Bühne zur Ruhe. Die rhythmischen, fast stampfenden Schritte finden ein Ende. Als letztes Geräusch bleibt nur noch das rhythmische, pfeifende Ausatmen der Tänzerinnen und Tänzer. Dann erlischt das Licht. Die Rot illuminierte Rückwand färbt sich schwarz, ganz so wie der Abend vor 52 Minuten begonnen hatte. Absolute Stille.

Das Publikum hat gebannt und fasziniert bis zur letzten Sekunde auf die Bühne gestarrt, in der Stille brandet der Applaus auf. Das erhitzte, noch dampfende Ensemble bedankt sich erleichtert und offensichtlich beglückt. Die 16 Studierenden des Instituts für Zeitgenössischen Tanz Folkwang Universität der Künste in Essen haben diesen Abend mit Bravour zelebriert und im Flow genossen. Die bunt-schillernde Gruppe von angehenden Tanzprofis aus aller Herren Länder hatte den Abend unter der Choreographin Sasha Waltz einstudiert.

Sasha Waltz über Freiheit und Demokratie

Die Choreographie von Sasha Waltz oszilliert zwischen individueller Freiheit, Improvisation und festgelegten Formationen und Bewegungsabläufen – Foto Ursula Kaufmann

Die Komposition „In C“ von Terry Riley aus dem Jahr 1964 gilt gemeinhin als erstes Werk der Minimal Music. Basierend auf diesem Meilenstein der Musikgeschichte entwickelte Sasha Waltz 2021 gemeinsam mit ihrem Ensemble choreografisches Material, das den Spielregeln der musikalischen Komposition folgt. Die gleichnamige Tanzarbeit ist bewusst nicht als fertiges Bühnenstück angelegt und lässt Raum für immer neue Variationen. Parallel zu den 53 musikalischen Phrasen hat Sasha Waltz 53 Bewegungsmuster und Tanzeinlagen choreographiert.

Die einzelnen Bewegungsabläufe und Tanz-Figuren wurden in Video-Tutorials festgehalten, die das Erlernen des choreographischen Materials zukünftig digital und damit ortsungebunden zu ermöglichen. Auch Tänzer und Tanzgruppen, die nicht vor Ort sind, können sich dadurch mit „In C“ auseinandersetzen und ihr eigenes Stück erarbeiten.

Seit der Uraufführung wird „In C“ nicht nur von Sasha Waltz’ eigener Kompanie getourt, sondern von ihnen auch an Tänzer und Laien auf der ganzen Welt vermittelt. So entstand unter anderem ein großes Stadtprojekt in Marl im September 2022, bei dem rund 100 Laien den Stadtraum zur Musik von Terry Riley ertanzten. Und jetzt bei den Ruhrfestspielen zeigt eine Formation von Auszubildenden der zweiten Tanzklasse aus dem bedeutendsten europäischen Institutes eine neue Version des Tanz-Experiments.

„Es hat mich gereizt, diese detaillierten Instruktionen in einer choreographischen Auseinandersetzung mit der Musik in Tanz zu übertragen“, erklärt die Choreographin. „Entstanden ist ein Spielsystem aus 53 Bewegungsfiguren für eine strukturierte Improvisation mit klaren Regeln und Gesetzen. Variabel bleiben die Länge des Stücks sowie die Besetzungsstärke von Musikern und Tänzern. (…) Es ist eine spannende Herausforderung, daraus zukünftig viele unterschiedliche Variationen und Formate entwickeln zu können, sowohl für professionelle Tänzer wie für Kinder und Laien“, blickt Sasha Waltz in die Zukunft.

Sasha Waltz & Guests wurde 1993 von Sasha Waltz und Jochen Sandig in Berlin gegründet. Bis heute haben zahlreiche Künstler und Ensembles aus Architektur, Bildender Kunst, Choreographie, Film, Design, Literatur, Mode und Musik aus 30 Ländern in über 80 Produktionen, Dialog-Projekten und Filmen als Guests mitgewirkt.

Sasha Waltz & Guests arbeitet in einem internationalen und nationalen, sich ständig weiter entwickelnden Netz von Produktions- und Gastspielpartnern und zeigt aus dem derzeit 12 aktive Produktionen umfassenden Repertoire etwa 70 Vorstellungen pro Jahr.

In Berlin kooperiert die Compagnie mit einer großen Bandbreite von Einrichtungen wie Stadttheatern, Opernhäusern und Museen und hat zur Gründung neuer Kulturinstitutionen beigetragen. „In C“ ist ein Meilenstein des zeitgenössischen Tanztheaters.

(Jörg Bockow)

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