„metaFAUST“, heißt die neue Produktion, mit der das Wolfgang Borchert Theater ambitioniert in seine neue Spielzeit startet. Mit „metaFaust“ tritt Tanja Weidner zugleich ihre Intendanz an und nimmt selber am Regiepult Platz. Ihre moderne Umsetzung des „Faust“ von Johann Wolfgang von Goethe zeigt eindrucksvoll was Theater leisten kann, um den Zuschauer mit einem alten, vertrauten Stoff in aktuelle Fragen zu verwickeln. Tanja Weidner legt mit „metaFAUST – Der Pakt mit der Zukunft“ die Messlatte für die kommende Spielzeit ziemlich hoch. Kaum überraschend: Ihre Version des „Faust“ ist sehenswert!
Frischer Wind weht durch alle Ritzen und ein neuer Geist drängt auf die Bühne. Es sind einige Neuerungen, die sich da in der Spielstätte am Hafen Ausdruck verschaffen: ein Facelifting zum einen, aber eben auch ein stark verjüngtes Ensemble. Im Kader tauchen neue Gesichter auf, frisches Blut und junge Talente, wie Niclas Kunder, der – gerade erst Anfang 20 – souverän eine Paraderolle des deutschen Theaters übernimmt. Das erfordert ein gehöriges Maß an Selbstvertrauen und Spielfreude. Solcher Mut will belohnt werden.
Niclas Kunder ist ein vielversprechendes Talent, ganz ähnlich wie Katharina Hannappel, die ebenfalls neu am WBT ist und sich in allerkürzester Zeit bereits in eine Handvoll Rollen hinausgefuchst hat, die sie in den kommenden Monaten übernehmen wird. In „metaFAUST“ gibt sie als Gretchen mit jeder Faser ein überzeugendes Debüt.
„metaFAUST“ ist ein experimentelles Projekt, denn Tanja Weidner hat keinen geringeren als KI, also Künstliche Intelligenz eingeladen, das Stück mit ihr gemeinsam durchzusehen, zu modernisieren und womöglich umzukrempeln. ChatGPT als Co-Autor – ob das wohl gut geht?
Eines vorweg zur Beruhigung: Wo „Faust“ draufsteht ist auch Johann Wolfgang von Goethe drin. Den Text kann der gebildete Zuschauer passagenweise mitsprechen, er ist bekannt und vertraut, zumal als Gedächtnisstütze eine Vielzahl geflügelter Worte aufblitzen. Der „Faust“ gehört zum deutschen Bildungskanon. Kaum jemand im Publikum, der mit ihm nicht in Berührung gekommen wäre.
An der Sprache und den eingängigen Versen des Dichterfürsten mochte sich selbst die KI nicht vergreifen – oder die Regisseurin hat rechtzeitig Einhalt geboten. Der Einfall aus der Rolle des Mephistopheles die Verkörperung von KI in Form von ChatGPT zu machen, ist klug und kreativ, zumal er tatsächlich neue Sichtweisen und neue Erkenntnisse ermöglicht. Denn Künstliche Intelligenz hat etwas Verführerisches ganz so wie in der ursprünglichen Rolle des Mephistopheles, dessen Sog man sich kaum entziehen kann. Sie ist buchstäblich ein „Pakt mit der Zukunft“.
Auch Szenen mit Hilfe von ChatGPT neu hinzu zu erfinden, hat seinen Reiz, muss allerdings nicht immer passen und gelingen, wie die überraschende Politszene, in der Vertreter der europäischen Idee gemeinsam ein Kampflied anstimmen. Und den ersten Teil des „Faust“ mit Passagen aus dem zweiten Teil des Dramas aufzumischen, macht wie man in „metaFAUST“ sehen kann Sinn. Übrigens war der neue Titel des Stückes „metaFAUSt“ ein Vorschlag, den sich die Künstliche Intelligenz ausgedacht hat.
Tanja Weidner setzt in ihrer Inszenierung auf KI-generierte Videoeinspieler und eine sphärische Musik, die von Tobias Bieseke und Jan Schulten programmiert und umgesetzt wurden. Alles fügt sich in das Ganze der stimmigen und voll überzeugenden Inszenierung. Dazu gehören nicht zuletzt die fantastischen, teilweise futuristischen Kostüme und das kongeniale Bühnenbild von Annette Wolf.
Das Konzept der Bühne ist bis ins Detail ästhetisch stimmig und zugleich funktional. Bewegliche, teilweise verspiegelte Wände erlauben blitzschnelle Szenen-, Orts- und Zeitwechsel. Die Protagonisten schauen sich selber zu, blicken kritisch in ihr Antlitz oder nehmen sich entrückt in einem Zerrspiegel wahr.
Annette Wolf hat für ihr maximal reduziertes und abstraktes Bühnenbild einmal mehr in ihre Trickkiste gepackt: Drehbare Projektionsflächen, horizontal und vertikal schwenkbare Flügel, Türen und Tore, als Ganzes bewegliche Elemente und immer wieder spiegelnde Flächen. Das ist klasse und bietet so viele Möglichkeiten!
„metaFAUST“ ist mit den eigenen Darstellern des Hauses perfekt besetzt. Es macht Spaß, Gregor Eckert in der Rolle des Heinrich Faust zuzuschauen. Er füllt seine Rolle gerade auch in seinen Unsicherheiten und Zweifeln wunderbar aus.
Niclas Kunder ist die diabolische Seite der Künstlichen Intelligenz. Er weiß den Doktor mit brillanter Rethorik um den Finger zu wickeln und verkörpert das Teufelswerk geradezu perfekt. Seine Sprache ist mal schmeichelnd und einschleimend, dann wieder scharf und hart wie eine frisch geschärfte Klinge.
Sinnlich, zart und zerbrechlich ist das Gretchen, das Katharina Hannappel verkörpert. Sie ist eine wunderbar einfühlsame Darstellerin. Glaubwürdig bis in allen Nuancen dieser tragischen Figur: Man folgt ihr gerne in ihrer Schwärmerei und leidet mit in ihrem Scheitern.
Auch die anderen Rollen sind trefflich besetzt und werden wie gehabt wunderbar ausgespielt, dass es wieder ein Genuss ist, ihnen zuzuschauen: Allen voran Florian Bender, der in fünf Rollen zu sehen ist und Ivana Langmajer, die ebenfalls fünf Parts übernommen hat. Tara Oestreich – auch ein neues Gesicht im Ensemble schlüpft in drei Rollen. Kaum wiederzuerkennen: Meinhard Zanger als Erdgeist.
Faust reloaded ist ein spannendes Experiment, aber an den Grundfragen, die Goethe mit seinem Stück aufwirft, hat sich nichts geändert: Es stellt weiter jene zeitlosen Fragen wie die nach dem Wissen, der Wahrheit und der Erkenntnis, nach Sinn, Moral und Glück und zwar ganz gleich, ob der Gelehrte Heinrich nun in seiner Studierstube mit einem Totenschädel hantiert oder mit einer VR-Brille in die Zukunft schaut. Faust thematisiert die Dualität von Gut und Böse und die Frage nach dem Sinn des Lebens.
Im Mittelpunkt des „metaFAUST“ bleibt die Gretchentragödie, die auch in dieser Fassung unter die Haut geht und den Zuschauer bewegt. Zwar erlebt Faust mit Gretchen seine rauschhafte Erfüllung und sexuelle Befriedigung, wie sie ihm vom bösen Geist versprochen wurde, aber ob das tatsächlich Liebe ist wie sie sich Gretchen erhofft, kann bezweifelt werden. Gretchen jedenfalls zerbricht an ihr und ihrem Traum, weil sie ihrem Heinrich alles schenkt und offenbart, während er für sie allenfalls als wunderschönes Geschöpf schwärmt aber nicht wirklich für sie eintritt und sie liebt.
Als sie von ihm verführt schwanger wird, geht er mehr und mehr auf Distanz. Und die für sie so existenzielle Frage, ob er religiös sei und an Gott glaube, will er nicht beantworten. Das wäre für Gretchen immerhin eine Basis für eine gemeinsame Zukunft, auch wenn alle Welt sich gegen sie verschworen hat.
Gretchen hat sich verschenkt, sich hingegeben und verliert am Ende alles. Faust lädt damit Schuld auf sich, ganz so wie es der geheime Plan und der Deal mit der diabolischen Intelligenz vorhergesehen hat. Faust hat seine Seele verkauft. Auch für ihn gibt es keine Zukunft.
„metaFAUST“ bietet eine neue Sichtweise und Interpretation, zumal KI in der Wahrnehmung der meisten Menschen durchaus etwas Teufliches, Undurchsichtiges und Gefährliches hat, das den Menschen überflügeln – vielleicht gar ersetzen könnte.
„Goethes Faust ist ein Lebenswerk – denn in jeder Lebensphase hat er sein Drama aller Dramen überarbeitet. Der alternde Goethe war kein Gegner der Moderne, er ahnte aber die Gefahren der herannahenden Industrialisierung und Technisierung und, abgestoßen durch alles Revolutionäre, die drohende Gewalt einer entfesselten Kommunikation der Massen. So spiegelt sich, 200 Jahre vor der Erfindung der Künstlichen Intelligenz, in der Figur des Faust eine Menschheit, die auf der Suche nach neuen Grenzversschiebungen ist. Der Pakt mit dem Teufel – das ist heute der Pakt mit der Künstlichen Intelligenz.“ (aus der Ankündigung des WBT)
„metaFaust“ , die moderne Adaption des klassischen Dramas, spielt mit der Angst und den undurchschaubaren Fähigkeiten der Künstlichen Intelligenz. Es ist durchaus nachvollziehbar, dass Heinrich Faust mit den Fähigkeiten und Verlockungen, die die Künstliche Intelligenz ihm verspricht liebäugelt, sich sogar auf den Deal einlässt und seine Seele verrät wie weiland der Doktor Faust in seiner Studierstube den Schmeicheleien des Mephistopheles erlegen ist. Das mag uns eine Warnung sein: Denn mit dem Teufel ist ebenso wenig zu spaßen wie mit der Künstlichen Intelligenz. (Jörg Bockow)
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