„Anne-Marie, die Schönheit“ im WBT Münster

„Anne-Marie, die Schönheit“, das Schauspiel von Yasmina Reza hatte gerade am Wolfgang Borchert Theater Münster seine gefeierte Premiere. Das Stück scheint dem scheidenden Intendanten Meinhard Zanger auf den Leib geschrieben. Ein Mann in einer Frauenrolle, ganz so wie es Yasmina Reza für die Inszenierung ihres Stückes „vorgeschrieben“ hat. Und das ganz ohne Anflüge einer überspannten, schrillen Travestie.

„Anne-Marie, die Schönheit“ im WBT Münster

“Anne-Marie, die Schönheit” von Yasmina Reza am Wolfgang Borchert Theater mit Meinhard Zanger – Foto Edina Hojas

„Anne-Marie, die Schönheit“ bietet eine Sternstunde der Schauspielkunst, zumal das Stück auch eine geistreiche Reflexion über das Theater und die Schauspielerei ist. Hinzukommt, dass Meinhard Zanger wie die Hauptperson Anne-Marie Mille, die alternde Schauspielerin, gerade sein Leben als Schauspieler und Intendant Revue passieren lässt.

“Anne-Marie, die Schönheit” von Yasmina Reza am Wolfgang Borchert Theater mit Meinhard Zanger – Foto Tanja Weidner

Denn für Zanger markiert seine Rolle auch eine Zäsur. Nach 18 Jahren als Intendant verabschiedet sich Zanger mit dieser poetischen Rückschau eines Künstlerlebens. Er übergibt Intendanz und Geschäftsführung an seine Frau Tanja Weidner und er bekennt, noch nicht wirklich zu wissen, was er demnächst machen will.

„Anne-Marie, die Schönheit“ im WBT Münster

“Anne-Marie, die Schönheit” von Yasmina Reza am Wolfgang Borchert Theater mit Meinhard Zanger – Foto Klaus Lefebvre

Die Rolle der Anne-Marie, in die er an diesem Abend schlüpft, verlangt eine authentische und im höchsten Grad glaubhafte Darstellung. Regisseurin Tanja Weidner hat ganze Arbeit gemacht: Meinhard Zanger gelingt daraufhin ein bewegender Spagat mit Bravour: Indem er der traurigen Lebensbilanz von Anne-Marie einen einfühlsamen und lebendigen Ausdruck verleiht, lässt er uns zugleich ein Stück in seine Seele und die Seele eines Schauspielers schauen.

Die Parallelen liegen auf der Hand: Es ist Zeit Abschied zu nehmen und sich selbst rückblickend in Frage zu stellen. Es ist Zeit dem Leben einen neuen Sinn zu geben und neue Aufgaben zu übernehmen. Dabei reichen sich Fiktion und Wirklichkeit die Hände. Ein ganzes Leben schnurrt auf eine Reihe von Geschichten zusammen. „Anne-Marie, die Schönheit“ ist wie ein Selbstgespräch angelegt, es reflektiert die Höhen und Tiefen des Schauspielerdaseins. Zugleich zeigt es den schmerzlichen mitunter auch bittere Prozess, den man durchläuft, wenn man selber gewahr wird, dass man am Ende seines aktiven Lebens steht.

„Anne-Marie, die Schönheit“ im WBT Münster

“Anne-Marie, die Schönheit” von Yasmina Reza am Wolfgang Borchert Theater mit Meinhard Zanger – Foto Tanja Weidner

In ihrem anderthalbstündigen Monolog durchläuft Anne-Marie in ihren Erinnerungen die bewegenden Stationen ihres Lebens. Daraus wird das Porträt einer alternden Frau, im Besonderen: einer alten Schauspielerin. Ein Rückblick auf ein Leben zwischen Bühne und Wirklichkeit. Es waren keine großen Auftritte im Scheinwerferlicht, wie es der Titel eigentlich suggeriert. Denn eine Diva wie die von ihr bewunderte Kollegin Giselle Fayolle ist Anne-Marie nie gewesen. Sie hat immer nur die kleineren Rollen abbekommen und eher am Rande der Bühne gestanden.

„Anne-Marie, die Schönheit“ im WBT Münster

“Anne-Marie, die Schönheit” von Yasmina Reza am Wolfgang Borchert Theater mit Meinhard Zanger – Foto Tanja Weidner

Diese Anne-Marie, in der wundervollen Interpretation von Meinhard Zanger, schließt man in ihrer schonungslosen Offenheit ins Herz. In den anrührenden Momenten springt man immer wieder hin und her: Von der Rolle zur Person, vom Darsteller zurück zur Rolle. Beides scheint für Momente miteinander zu verschmelzen. Wobei man sich immer wieder kneifen muss, um der Verwechslung nicht auf den Leim zu gehen. „Anne-Marie, die Schönheit“ ist eine Rolle, die Meinhard Zanger als Schauspieler zelebriert und mit jeder Pore, jeder Geste und seiner Stimme ausfüllt. Meinhard Zanger gelingt dies meisterhaft.

“Anne-Marie, die Schönheit” von Yasmina Reza am Wolfgang Borchert Theater mit Meinhard Zanger – Foto Klaus Lefebvre

„Ich hatte ein glückliches Leben, wissen Sie. Ich hatte ein Filmgesicht“, so beginnt Ann-Marie ihre Lebensgeschichte. Dabei humpelt sie mühsam mit ihrem Stock über die kleine Bühne und nimmt in ihrer winzigen Wohnung (oder ist es ihre Garderobe) auf einem Chaiselongue Platz. Gerade erst hat sie ein neues Knie aus Titan bekommen – nur die Kniescheibe sei ihr verblieben. Mit sarkastischem Unterton fragt sie sich, was nach ihrem Ableben von ihrem Körper übrigbleiben würde. Wahrscheinlich nur dieses Metallknie, denn sie wolle sich auf jeden Fall einäschern lassen. Anlässlich des Todes ihrer erfolgreichen Schauspielerkollegin Giselle Fayolle reflektiert Anne-Marie über ihre eigene Laufbahn. „Wissen Sie, Giselles Tod, das ist für mich, als hätte ich meinen Koffer ein letztes Mal ausgepackt.“

Anne-Marie ist in der französischen Provinz aufgewachsen, im Kohleort Saint-Sourd-en Ger, wo mit ihrer Begeisterung für die dortige Theatertruppe ihr Wunsch aufkeimte Schauspielerin zu werden. Sie kannte als junges Mädchen die Namen aller Schauspielerinnen und Schauspieler, sie hat sie bis heute nicht vergessen. Sie nennt sie am Anfang und zeigt bei jedem Namen ins Publikum als entdeckte sie dort den genannten Protagonisten, sie nennt ihre Namen am Ende des Stückes wieder. Ein großer Bogen spannt sich vom Beginn und Ende ihres Schauspielerdasein.

„Anne-Marie, die Schönheit“ im WBT Münster

“Anne-Marie, die Schönheit” von Yasmina Reza am Wolfgang Borchert Theater mit Meinhard Zanger – Foto Tanja Weidner

Die große Karriere wollte sich allerdings einfach nicht einstellen. Sie hat es gerade mal bis in ein Pariser Vorstadttheater, das Théâtre de Clichy geschafft. Und während ihre Kollegin Gigi die großen Rollen im Kino spielte, von prominenten Liebhabern umschwärmt wurde und von einer großen Schar zauberhafter Enkel umgeben war, blieb Anne-Marie nur ihr tumber, ordnungsliebender Mann und ein, wie sie findet, missratener Sohn. Während Anne-Marie sich mit jeder ihrer Rollen eingehend auseinandersetzte, las die bewunderte Giselle nicht einmal die Stücke, die sie spielte und lernte nur ihren Text. Darin schwingt die ganze Verachtung von Anne-Marie mit.

“Anne-Marie, die Schönheit” von Yasmina Reza am Wolfgang Borchert Theater mit Meinhard Zanger – Foto Tanja Weidner

Doch während Gigi bereits das Zeitliche segnete, lebt Anne-Marie weiter und erträgt stoisch die Herausforderungen des Alterns und ihre Einsamkeit. Auch ihren Mann hat sie überlebt, mit ihrem mehr oder weniger missratenen Sohn hadert sie. Sie will mit ihm eigentlich nichts zu tun haben.

“Anne-Marie, die Schönheit” von Yasmina Reza am Wolfgang Borchert Theater mit Meinhard Zanger – Foto Klaus Lefebvre

„Die Welt ist auf die banalsten Dinge zusammengeschrumpft“, kommt ihr zu Bewusstsein. Inzwischen erfreut sie sich an den kleinen Begegnungen des Lebens, beispielsweise wenn sie im Supermarkt Monoprix auf die bekannten Gesichter der dortigen Mitarbeiter trifft, die ihr zuvorkommend zur Hand gehen. Im Supermarkt kennt man sie und hilft ihr freundlich bei all ihren Einkäufen. Auch habe man ihr dort einen Sitzplatz eingeräumt, wo sie vor und nach dem Einkauf verschnaufen könne. „Es heißt, die glücklichsten Leben sind diejenigen, in denen nicht viel passiert . . .“, sinniert sie.

„Anne-Marie, die Schönheit“ ist eine Lebensbeichte voller poetischer Tiefe und ein bitteres Klagelied über das Älterwerden. Meinhard Zanger spielt die Rolle seines Lebens ohne Sentimentalität und ohne Selbstmitleid aber mit großer Glaubwürdigkeit. Als Zuschauer sind wir von der ersten bis zur letzten Sekunde gefesselt. Großartig! (Jörg Bockow)

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