Hunger als Waffe – erklärt der Kiepenkerl

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Hunger wird häufig als Waffe in kriegerischen Auseinandersetzungen eingesetzt. Jüngstes Beispiel: Russland nutzt den Hunger als Druckmittel im Krieg gegen die Ukraine.

Hunger als Waffe

Die Getreideläger der Ukraine quellen über, weil Putin die Getreideexporte übers Schwarze Meer mithilfe einer Blockade durch russische Kriegsschiffe unmöglich machte – Foto Pixabay

Die Ukraine hat Erfahrung damit, dass Russland vor Menschheitsverbrechen nicht zurückschreckt, wenn es um die Durchsetzung von wirtschaftlichen oder territorialen Interessen geht. Schließlich war die Ukraine von 1922 bis zum Zerfall der Sowjetunion Ende 1991 eine russische Unionsrepublik.

In den Jahren 1932 und 1933 verhungerten im Sowjetreich rund sieben Millionen Menschen. Etwa 50 Prozent davon in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (USS), obwohl die nur ein Fünftel der Sowjetbevölkerung ausmachte.

Der Grund war, dass Josef Stalin das Konzept des Sozialismus im ganzen Land zum zentralen Grundsatz der sowjetischen Gesellschaft gemacht hatte. Er setzte auf eine stark zentralistische Kommandowirtschaft und Kollektivierung. Das war in der Praxis mit einer radikalen Hinwendung der UdSSR von einer Agrar- zu einer Industriegesellschaft verbunden. Die Kollektivierung der Landwirtschaft verursachte Hungersnöte insbesondere in der Ukraine, aber auch in anderen Teilen der Sowjetunion.

Hunger als Waffe

Putin nutzt den Hunger als ein Druckmittel gegen den Westen, der die Ukraine unterstützt – Foto

Der sogenannte Holodomor (Tod durch Hunger) begann mit zwei Missernten in den Jahren 1931 und 1932. Trotz des Hungers der Landbevölkerung in der Ukraine erhöhten Stalins Parteikader die Abgabenquote der Bauern für Getreide.

Der Holodomor war eine Bestrafung der Ukrainer für ihren Widerstand gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft und für ihre Ablehnung der russischen Herrschaft. Die Strafmaßnahmen gingen mit der Vernichtung der ukrainischen Kultur, Sprache und Traditionen einher. Durch die gezielt verursachte Hungersnot versuchte die Sowjetmacht das sogenannte „ukrainische Problem“ entsprechend dem Erlass von Stalin zu lösen.

Nach Erkenntnissen von Historikern war die ukrainische Bauernschaft Anfang der 1930er Jahre das Hauptzentrum des Widerstands gegen die bolschewistische Politik von Zwangskollektivierung und forcierter Industrialisierung. Das schürte bei Stalin die Angst, die Ukraine als eine wichtige Getreideressource zu verlieren, ohne die der Aufbau eines mächtigen industriellen Imperiums nur ein Traum geblieben wäre.

Im Herbst 1932 entschied Stalin, die Hungerkrise gezielt gegen die Ukraine zu nutzen. Die Grenzen wurden geschlossen, sodass Hungerflüchtlinge nicht ausreisen konnten.

Um die Ukraine gefügig zu machen, erarbeitete das sowjetische Regime einen Plan zur Vernichtung eines Teils der ukrainischen Nation. Ziel war, die vollständige Einziehung der Getreidevorräte, sowie um die Beschlagnahme von anderen Lebensmitteln und Vermögen als Strafe für die Nichterfüllung des Abgabeplans.

Die Dörfer und Kolchosen, die die Getreideabgabe verweigerten, wurden auf einer „Schwarzen Tafel“ verzeichnet. Sämtliche darauf eingetragenen Gebiete wurden von Truppen der Miliz und der sowjetischen Sicherheitsdienste umzingelt. Von dort brachte man alle Lebensmittelvorräte in andere Sowjetrepubliken. Der Handel und die Wareneinfuhr sowie die Ausreise aus dem Holodomor-Gebiet waren verboten. 22,4 Millionen Menschen wurden in den Grenzen eingekesselt.

Das Ziel war die bewusste und systematische Ermordung von Millionen Menschen. Während in ukrainischen Dörfern die Menschen vor Hunger die grünen Blätter der Bäume aßen, wurden ukrainische Lebensmittel auf Stalins Befehl in anderen sowjetischen Republiken zu günstigen Preisen verkauft.

Die Historikerin Anne Appelbaum vertritt auf der Grundlage zum ersten Mal ausgewerteter Dokumente die These, dass es sich um einen geplanten und gezielten Massenmord handelte. „Ziel sei es gewesen, einen erneuten Bauernaufstand wie 1918/19 zu verhindern.“

Seit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 bemüht sich die Ukraine um eine internationale Anerkennung des Holodomor als Völkermord. Doch diese Einstufung ist bis heute umstritten.

Anne Appelbaum vergleicht den Massenmordcharakter des Holodomor mit dem nationalsozialistischen Hungerplan, der vor Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion 1941 auf Befehl von Adolf Hitler erarbeitet wurde. Darin war das Verhungern von ca. 30 Millionen Menschen in der UdSSR vorgesehen.

Zum Glück ist es wegen des verlorenen Krieges nicht zu dem Massensterben gekommen.

Nach dem Überfall von Wladimir Putin auf die Ukraine am 24. Februar 2022 stellt sich die Versorgungslage in der Ukraine völlig anders dar. Die Getreideläger quellen über, weil Putin die Getreideexporte übers Schwarze Meer mithilfe einer Blockade durch russische Kriegsschiffe unmöglich machte. Erst durch die Vermittlung des türkischen Präsidenten Recep Erdogan liefen die Exporte schleppend wieder an. Doch nach wie vor besteht die Gefahr, dass Putin weiter Getreidelieferungen im Schwarzen Meer stoppt, um den Hunger in Nordafrika als Waffe einzusetzen.

Putin nutzt die Behinderung der Getreideexporte in doppelter Weise. Einerseits wurden die Deviseneinnahmen der Ukraine durch den Rückgang des Getreideverkaufs reduziert. Andererseits nutzt er die Blockaden der überlebenswichtigen Hungerhilfe für die afrikanischen Länder als Druckmittel, damit die internationalen Sanktionen gegen Russland gelockert werden.

Aufgrund der Erfahrungen mit der russischen Diktatur ist es verständlich, dass das ukrainische Volk in beneidenswerter Weise für die Erhaltung der staatlichen Unabhängigkeit und der Demokratie kämpft. Die erhielt sie im Rahmen des von Michail Gorbatschow (damaliger Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion) 1985 in Gang gesetzten Reformprozesses zur Umgestaltung der Sowjetunion. Auch andere Republiken des Vielvölkerstaates nutzten die neuen Freiheiten und setzten eigene Autonomiebestrebungen in die Tat um. So kam es 1991 zum Ende der Sowjetunion.

Putin sieht die Besetzung der Krim und den Einmarsch ins Kernland der Ukraine als ersten Schritt zur Wiederherstellung der Sowjetunion in den Grenzen von vor 1991.

 

 

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