„Wann, wenn nicht jetzt“ fragt das WBT

„Wann, wenn nicht jetzt“ fragt das Wolfgang Borchert Theater in Münster in seiner aktuellen Inszenierung das Publikum. Strenggenommen ist es eine rhetorische Frage. Die Antwort liegt auf der Hand.

„Wann, wenn nicht jetzt“ fragt das WBT

“Wann, wenn nicht jetzt” im Wolfgang Borchert Theater mit Alessandro Scheuerer, Rosana Cleve und Meinhard Zanger – Foto Tanja Weidner

Das Schauspiel „Wann, wenn nicht jetzt“ ist ein einziger Appell, verbunden mit der moralischen Frage, die in dieser Zeit nicht dringlicher ausfallen könnte. Wir, das Volk, müssten etwas tun. Jetzt, sollten wir handeln! Was wir tun sollten, bleibt angesichts der dystopischen Realität, die das Stück zeigt allerdings offen. Der Appell ist wohlfeil. Eine Lösung ist nicht in Sicht.

„Wann, wenn nicht jetzt“ fragt das WBT

“Wann, wenn nicht jetzt” im Wolfgang Borchert Theater mit Alessandro Scheuerer und Rosana Cleve – Foto Klaus Lefebvre

In der aktuellen politischen Situation, die unübersehbar vom Krieg in der Ukraine bestimmt ist, bleibt uns auch nicht mehr, als darauf zu hoffen, dass der Krieg möglichst bald endet, am besten am Verhandlungstisch. Als Symbol für das Vorbild des Westfälischen Friedens schwebt der Leuchter aus dem historischen Friedenssaal über der Bühne. Doch der ersehnte Frieden liegt in weiter Ferne. Hier wie dort. Autor und Ensemble sind aber auf der sicheren Seite. Sie haben mit ihrem Stück immerhin die Frage aufgeworfen.

„Wann, wenn nicht jetzt“ fragt das WBT

“Wann, wenn nicht jetzt” im Wolfgang Borchert Theater mit Gregor Eckert und Erika Jell – Foto Tanja Weidner

Die Uraufführung des Stückes unter dem gleichlautenden Titel ging gerade im Borchert Theater über die Bühne.„Wann, wenn nicht jetzt“ ist ein Auftragswerk, das zum 375. Jubiläum des Westfälischen Friedensvertrages aus der Feder des luxemburgischen Dramatikers Olivier Garofalo stammt. Bereits im vorletzten Jahr begonnen, wurde die Fassung des Stückes vom mörderischen Überfall Russlands auf die Ukraine gewissermaßen überholt. Garofalo musste unter dem Eindruck des Krieges sein Stück in Zusammenarbeit mit der Regisseurin Tanja Weidner und dem Ensemble mehrmals überarbeiten. Das Ergebnis kann sich sehen lassen! Borchert Theater legt mit seiner Inszenierung einmal mehr den Finger in eine aktuelle Wunde – so geht politisches Theater!

“Wann, wenn nicht jetzt” im Wolfgang Borchert Theater mit Gregor Eckert und Erika Jell – Foto Klaus Lefebvre

Denn jetzt erscheint „Wann, wenn nicht jetzt“ wie ein Subtext zur aktuellen weltpolitischen Lage. Immer wieder erkennt man in der Rolle des Diktators den Kriegstreiber Vladimir Putin. Dabei spielt das Gedankenexperiment im Jahr 2048, also in einer zugegeben nicht mehr allzu fernen Zukunft. Es ist das Jahr zum 400. Jubiläum des Westfälischen Friedens, der in der Geschichte dafür gefeiert wird, einen Verhandlungsfrieden herbeigeführt zu haben. Doch der Diktator Luis Barto (perfide und diabolisch in einer Art Vereinigung von Mephisto und „Joker“ von Intendant Meinhard Zanger verkörpert) führt einen mörderischen Krieg. Er regiert mit harter Hand und unterdrückt sein Volk.

Barto hat seinen Nachbarn den Krieg erklärt und schickt immer neue Truppen an die Front. Wer sich seinen Befehlen widersetzt, wird umgebracht. Aller Widerstand wird im Keim erstickt. Barto von Zanger kongenial gespielt, zeigt sich als Widerling und skrupelloser Mörder, dem es nur um sich, seinen Vorteil und seine Macht geht. Wenn er genüsslich im prächtigen Morgenmantel auf der Vorderbühne eine Handvoll hartgekochter Eier in den Mund schiebt – eines nach dem anderen und ohne zu schlucken – und dabei seinen ekelhaften Herrschaftssermon deklamiert, dreht sich einem buchstäblich der Magen um.

“Wann, wenn nicht jetzt” im Wolfgang Borchert Theater mit Meinhard Zanger – Foto Tanja Weidner

Die Welt liegt in Trümmern. Alle befinden sich mit allen im Krieg, seit über zehn Jahren. Staaten bekriegen sich, Extremisten begehen Anschläge. Ohne Frieden gibt es keine Zukunft, doch ohne Kompromisse keinen Frieden – eine Konferenz wird einberufen. Das klingt nach einem Westfälischen Frieden. Staatspräsidentin Carolyn Hübsch (wunderbar mondän und selbstherrlich von Ivana Langmajer gespielt) und das Sicherheitskabinett bereiten sich auf das Zusammentreffen mit dem Kriegstreiber Luis Barto vor. Der träumt vom Endsieg, egal, wie viele zivile Opfer er fordert. Er denkt nicht daran, Frieden zu schließen.

„Wann, wenn nicht jetzt“ fragt das WBT

“Wann, wenn nicht jetzt” im Wolfgang Borchert Theater mit Florian Bender und Rosana Cleve – Foto Tanja Weidner

Staatspräsidentin Hübsch stöckelt nervös und selbstgefällig über die Bühne und herrscht ihren Ehemann Peter (Gregor Eckert) an, ihr endlich die Aktenmappe mit den Unterlagen für die Friedensverhandlungen herbeizuschaffen. Dabei wird deutlich, die Guten sind nur scheinbar moralisch gefestigt und nur oberflächlich die Guten. Es kriselt zwischen den Eheleuten. „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“ (Theodor W. Adorno)

Peter Hübsch hat eine Affäre ausgerechnet mit der Widerstandskämpferin Romina Stift (Erika Jell) und droht damit die Ideale der Friedenspartei zu verraten. Die privaten Dissonanzen konterkarieren die gesellschaftlichen Ambitionen.

“Wann, wenn nicht jetzt” im Wolfgang Borchert Theater mit Meinhard Zanger – Foto Tanja Weidner

Nein, die Staatspräsidentin taugt nicht als Vorbild. Sie erweist sich am Ende sogar als korrupt. Ein skeptischer Seitenhieb auf alle Machteliten dieser Welt. Wer einmal an die Macht gekommen ist, der ist versucht sie für seinen Vorteil auszunutzen. Das war schon immer so und wird, so die ernüchternde Erkenntnis von „Wann, wenn nicht jetzt“ auch weiterhin so bleiben. Der Krieg, die Machtergreifung und der Machtmissbrauch scheinen in der menschlichen Natur zu liegen.

Auch in der zweiten Reihe hinter dem Diktator Barto brodelt es längst. Potenzielle Nachfolger haben sich in Stellung gebracht, um bei der nächstbesten Gelegenheit die Macht zu ergreifen und mit eigener Willkür weiter zu regieren. Außenminister Cornu Assel (Alessandro Scheuerer) und die Kriegsministerin Alva Tam (Rosana Cleve) schmieden Pläne.

“Wann, wenn nicht jetzt” im Wolfgang Borchert Theater mit Meinhard Zanger – Foto Tanja Weidner

Die Inszenierung von Tanja Weidner nutzt für einen nachdenklichen Kommentar eine Art Parabel, eine Meta-Ebene. Sie unterbricht das Spiel auf der Bühne, mit einer Art Verfremdungseffekt – Bertold Brecht lässt grüßen. In mehreren 3-D-Filmen wird das Publikum über eine VR-Brille, die man auf ein Zeichen hin während der Vorstellung aufsetzen muss, in eine künstliche Welt entführt. Dabei werden Fragen nach dem Geist der von Menschen gemachten Geschichte gestellt. Die Dystopie bekommt eine weitere pessimistische Perspektive: Wo immer der Mensch in der Geschichte der Erde aufgetaucht ist, folgen über die Jahrtausende immer wieder nur Zerstörung der Umwelt, Ausbeutung aller Ressourcen und schließlich Krieg und Vernichtung. Der Mensch macht aus dem ursprünglichen Paradies eine Hölle.

“Wann, wenn nicht jetzt” im Wolfgang Borchert Theater mit Ivana Langmajer und Gregor Eckert – Foto Tanja Weidner

Die Filme sind von dem VR-Künstler Tobias Bieseke und dem Sound-Artisten Jan Schulten mit Unterstützung von Schülern des hiesigen Paulinum-Gymnasiums gedreht worden. Die künstlichen Welten faszinieren durch ihre perfekten 360°-Perspektiven. Man kann sich tatsächlich drehen und wenden, nach unten und nach oben blicken. Die Videos sind mit moderner KI-Tricktechnik entstanden. Sie entwickeln nicht zuletzt durch die KI-Verfremdungen von Fotos einen eigenen Sog. Wenn bei Aufnahmen aus dem Friedenssaal des Münsteraner Rathauses in der Ahnengalerie des Westfälischen Friedens ausgerechnet verzerrte Porträts von Donald Trump, Vladimir Putin, Kim Jong-un und Xi Jinping auftauchen, wird deutlich was von den Menschen zu erwarten ist. Der Friedenssaal im Jubiläumsjahr 2048 liegt in Trümmern. Es steht zu befürchten das der Geist des Westfälischen Friedens damit auch verloren ist.

„Wann, wenn nicht jetzt“ fragt das WBT

“Wann, wenn nicht jetzt” im Wolfgang Borchert Theater mit Gregor Eckert und Ivana Langmajer – Foto Klaus Lefebvre

„Wann, wenn nicht jetzt“ ist ein anspruchsvolles, intellektuelles Stück, das nicht mehr aber auch nicht weniger als zum Nachdenken auffordert. „Eine moderne Suche nach den demokratischen Grundlagen und der Frage, wieviel Einfluss der Einzelne auf die Weltpolitik nehmen kann“, schreibt das Theater in seiner Programm-Ankündigung.

„375 Jahre nach dem Westfälischen Friedensschluss fragt der luxemburgische Dramatiker Olivier Garofalo im Auftrag des Wolfgang Borchert Theaters, was vom politischen Dialog übriggeblieben ist, ohne dabei den Blick für die Verantwortung jedes einzelnen aus den Augen zu verlieren. Wie steht es um das Zoon politikon? Müssen wir aktiver werden? Und falls ja: Wann, wenn nicht jetzt?“ Sehenswert!

(Jörg Bockow)

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