„Girls & Boys“ feiert im WBT Premiere

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„Girls & Boys“, das Stück des englischen Dramatikers Dennis Kelly, ist die neueste Produktion am Wolfgang Borchert Theater in Münster. Das Ein-Personen-Stück erzählt die Geschichte einer namenlosen Frau in wechselvollen, teils komischen und witzigen, dann aber auch extrem aufwühlenden und emotionalen Szenen.

„Girls & Boys“ feiert im WBT Premiere

Ivana Langmajer in “Girls & Boys” im Wolfgang Borchert Theater – Foto Klaus Lefebvre

In manchen Zwischentönen kündigt sich über den Abend allerdings selbst in den höchst unterhaltsamen Passagen das hochdramatische, bittere Ende an, mit dem der Autor sein Publikum vor den Kopf zu stoßen weiß und eine unglaubliche Betroffenheit auslösen wird. Das Stück ist Zeile für Zeile genau kalkuliert. Dennis Kelly weiß, was er tut, um das Publikum zum Nachdenken zu bringen und es am Ende sogar in Entsetzen, Trauer und Schmerzen zu stürzen.

Ivana Langmajer in “Girls & Boys” im Wolfgang Borchert Theater – Foto Klaus Lefebvre

Die junge Frau startet mit ihren Erinnerungen an ihre rauschhafte Jugend, in der sie offenbar „nichts ausgelassen hat“: Sex, Drugs and Rock’n’Roll, ihre „Saufen-Drogen-Ficken-Phase“ bis ihr Leben komplett orientierungslos und fad geworden ist. Sie will sich bei einem Trip durch die Welt wieder selber finden und herausfinden, was sie eigentlich will und kann. Nur wohin die Reise gehen soll, das weiß sie – auch im übertragenen Sinne – nicht.

„Girls & Boys“ feiert im WBT Premiere

Ivana Langmajer in “Girls & Boys” im Wolfgang Borchert Theater – Foto Klaus Lefebvre

Sie überlässt es dem Zufall und sticht mit einer Stecknadel in die Weltkarte und landet ausgerechnet in Duisburg. Der Lacher des Publikums reagiert auf die absurde und derbe, pointenreiche und rotzige Beschreibung der Frau. Das Stück beginnt als eine Art überdrehter Komödie, die Ivana Langmajer genüsslich ausspielt und mit einem überaus rotzigen, frechen Ton ausbreitet.

Neben dem genau kalkulierten Skript, dem man sich kaum entziehen kann, ist es vor allem Ivana Langmajer in der Rolle der namenlosen Frau zu verdanken, dass „Girls & Boys“ zu einem bemerkenswerten Abend wird. Das ist Schauspielkunst in Reinform. Mitreißend und beeindruckend!

„Girls & Boys“ feiert im WBT Premiere

Ivana Langmajer in “Girls & Boys” im Wolfgang Borchert Theater – Foto Klaus Lefebvre

Regisseurin Edina Hojas kann sich bei der Umsetzung ganz auf die Protagonistin verlassen. Sie kitzelt aus dem Spiel und der Performance von Ivana Langmajer alle Nuancen und Details heraus und verweigert sich allen Verlockungen mit allerlei visuellen Ablenkungen und Requisiten die Darstellung zu verwässern. Es zeigt sich: Weniger ist mehr. Die Regisseurin setzt auf die Fantasie und Vorstellungskraft der Zuschauer – und gewinnt!

„Girls & Boys“ spielt im Foyer des Theaters, wodurch zwar einerseits das Platzangebot begrenzt ist, aber die Nähe zur Bühne und zur Darstellerin den schauspielerischen Eindruck nur noch vertieft. Ivana Langmajer schlüpft so authentisch und vielseitig in ihre Rolle, dass einem buchstäblich die Spucke wegbleibt. Sie verleiht ihrer Figur so viel Tiefe und Glaubwürdigkeit, geradeso als ginge es um ihr eigenes Leben. Die Zuschauer sind von der ersten bis zur letzten Minute bei ihr, hängen an ihren Lippen und folgen ihrem Spiel bis in die feinsten Bewegungen und in jeden ihrer Blicke.

Ivana Langmajer in “Girls & Boys” im Wolfgang Borchert Theater – Foto Klaus Lefebvre

Der Text spielt mehr und mehr in den Köpfen der Zuschauer, die sich die „Szenen einer Ehe“ bis zum hochdramatischen Ende förmlich miterleben. Im Verlauf des Stücks verwischen Fiktion und Wirklichkeit, die Geschehnisse laufen vor dem inneren Auge ab und werden so zur erlebten Realität.

Ihren späteren Mann hat die junge Frau in der Warteschlange vor einem Easyjet-Flug kennen gelernt. Er ist ihr “auf den ersten Blick total unsympathisch” und es braucht ein paar Wendungen, bis sie seine Vorzüge entdeckt. Mit ihm wird sich ihr Leben radikal verändern. Die beiden verlieben sich ineinander und heiraten. Er ist ein erfolgreicher Geschäftsmann und sie startet von Zufällen und Glück begleitet in ihrem Job und macht schließlich sogar Karriere. Sie avanciert zur Dokumentarfilmerin, sie ist politisch engagiert und plötzlich überaus erfolgreich und das trotz eines anstrengenden Familienleben mit zwei Kindern.

„Girls & Boys“ feiert im WBT Premiere

Ivana Langmajer in “Girls & Boys” im Wolfgang Borchert Theater – Foto Klaus Lefebvre

Auf den ersten Blick sieht alles perfekt aus. Mit der Liebe, den beruflichen Träumen, dem Familienleben. Doch als es mit ihrer Karriere so richtig bergauf geht und sie mit ihrem Erfolg abzuheben droht, geht es parallel mit ihrer Ehe rasant bergab. Knackig derb und mit viel Humor wird die Geschichte eines ganz normalen Lebens erzählt, in dem sich das Paar in tradierten Geschlechterbildern verliert und die Not des jeweils anderen übersieht.

Ivana Langmajer in “Girls & Boys” im Wolfgang Borchert Theater – Foto Klaus Lefebvre

Mit dem Erfolg seiner Frau und ihrer wachsenden Selbstständigkeit weiß der Mann nicht zu umzugehen. Seine Rolle ist aus seiner eigenen Perspektive in Frage gestellt und angekratzt. Es kommt zu einem point of no return. Sein Geschäft läuft immer schlechter und endet schließlich in einem wirtschaftlichen Desaster. Er muss Insolvenz anmelden, steht vor seinem persönlichen Scheitern. Er flüchtet sich in Alkohol, eine Affäre und schottet sich bei Computerspielen komplett ab.

„Girls & Boys“ feiert im WBT Premiere

Ivana Langmajer in “Girls & Boys” im Wolfgang Borchert Theater – Foto Klaus Lefebvre

Dennis Kelly nutzt diese Ausweglosigkeit, um damit patriarchale und gesellschaftliche Strukturen demonstrativ vor die Wand fahren zu lassen. Die totale Sprachlosigkeit und die Unfähigkeit ihre Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen, führt das Ehepaar geradewegs in die Katastrophe. Sie zieht aus, reicht die Scheidung ein und will die Kinder behalten. Der Mann erlebt dieses Abschotten als eine Verletzung seiner Männlichkeit und als ein menschliches Desaster. Beide haben sie kein Idee mehr wie sie die Krise meistern und den Konflikt menschenwürdig lösen wollen. Die unterschiedlichen Geschlechterrollen prallen brutal aufeinander. Das menschliche Scheitern mündet bei ihm in eine schier unvorstellbare Aktion….

„Girls & Boys“ setzt sich radikal mit männlichen Verhaltensmustern und einer immer noch patriarchal geprägten Gesellschaft auseinander. Den Fragen, die Dennis Kelly mit seinem Stück aufwirft, kann man sich nicht entziehen.

„Girls & Boys“ feiert im WBT Premiere

Ivana Langmajer in “Girls & Boys” im Wolfgang Borchert Theater – Foto Klaus Lefebvre

Aus „Girls & Boys“ kommt man als Zuschauer anders heraus, als man reingegangen ist. Die Widerhaken bleiben hängen, die familiäre Katastrophe löst einen tiefen Schmerz und Betroffenheit, die offensichtlichen Diskrepanzen männlicher und weiblicher Rollen schmerzen. Sehenswert! (Jörg Bockow)

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