„Der zerbrochne Krug“ bei den Ruhrfestspielen

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„Der zerbrochne Krug“ auf der großen Bühne der Ruhrfestspiele in Recklinghausen: So zeitlos wie ein Klassiker halt, aber zugleich so zeitgemäß wie ein Gerichtsdrama mit aktuellen Akzenten. „Der zerbrochne Krug“, das feingesponnene und zugleich pointierte Lustspiel von Heinrich von Kleist in der Bearbeitung von Anne Lenk und David Heiligers passt wie Faust aufs Auge in unsere Zeit und in die aktuelle Debatte. Denn Machtmissbrauch und Verfehlungen, Sexismus und Vergewaltigung stehen immer noch auf der Tagesordnung. Nichts hat sich offenbar an der Geisteshaltung der Mächtigen geändert.

„Der zerbrochne Krug“ bei den Ruhrfestspielen

“Der zerbrochne Krug” aus dem Deutschen Theater Berlin: Vor einem Paradiesbild agiert ein großartiges Ensemble – Foto Arno Declair

Macht, Missbrauch und Lügen gehören zusammen wie Pech und Schwefel. Die unglaubliche Ignoranz des Dorfrichters Adam, selbst als er längst überführt ist, kennt viele Nacheiferer und vergleichbare Protagonisten. Wer denkt dabei nicht an Donald Trump, Rainer Maria Woelki und viele andere?! Selbst entlarvt, ertappt und überführt zeigen diese keine Einsicht, geschweige denn Reue. „Der zerbrochne Krug“ ist ein unterhaltsamer Abend mit durchaus bitterem Beigeschmack.

In Recklinghausen ist das Deutsche Theater aus Berlin mit „Der zerbrochne Krug“ zu Gast. Es entspinnt sich ein großartiger Theaterabend, dank der hervorragenden Regiearbeit von Anne Lenk und einem toll aufspielenden Ensemble. In einer Paraderolle spielt Ulrich Matthes als Dorfrichter Adam.

„Der zerbrochne Krug“ bei den Ruhrfestspielen

Der Dorfrichter Adam wird entlarvt und zur Rede gestellt – Foto Arno Declair

Das Ensemble sitzt abendfüllend auf einer Stuhlreihe vor dem überdimensionalen „Prunkstillleben mit Papagei“ des niederländischen Malers und Rembrandt-Zeitgenossen Jan Davidszoon de Heem. Das Paradiesbild, das Schönheit und Unschuld ausstrahlt, spielt auf den zeitlichen Horizont des Lustspiels an, andererseits sind die teilweise schrillen und poppigen Kostüme in Oranje gehalten. Ein witziger Kontrast.

Anne Lenk inszeniert “Der zerbrochne Krug” mit großem Tempo und setzt in ihren Bildern überraschende Akzente. Licht aus, Licht an. Im Blackout verschwinden die Akteure in vollkommener Finsternis. Nach einem Schlagzeugtusch geht es nach wenigen Sekunden weiter. Es bleibt keine Zeit, sich verwundert die Augen zu reiben. Das Drama entwickelt sich buchstäblich Schlag auf Schlag.

„Der zerbrochne Krug“ bei den Ruhrfestspielen

Eve erklärt, dass sie von dem Dorfrichter sexuell genötigt und mißbraucht worden ist – Foto Arno Declair

Dorfrichter Adam, offensichtlich nach einem häuslichen Sturz ziemlich lädiert, lamentiert vor dem Gerichtsschreiber Licht selbstironisch darüber, dass er an diesem Morgen aus dem Bett gefallen und böse gestürzt sei. Er bietet ein Bild des Jammers. Im rosafarbenen, verschwitzten Unterhemd sitzt er breitbeinig und selbstgefällig auf einem Stuhl – offenbar bereits im Gerichtssaal. Heute ist Gerichtstag und er hat Entscheidungen und Urteile zu fällen. Alles soll möglichst schnell und reibungslos laufen.

Adam lässt sich nicht aus der Ruhe bringen als ihm Kollege Licht ankündigt, dass an diesem Tag Gerichtsrat Walter aus Utrecht sich zur Revision angesagt hat. Später wird er sich dann doch seine Robe anziehen, um die notwendige Würde auszustrahlen.

Mit dem Auftauchen der Gerichtsrätin, die in der Inszenierung von “Der zerbrochne Krug”  von Anne Lenk durchaus mit einem feministischen Seitenhieb eine schwangere Frau in Latzhose ist, geht das Gerichtsdrama los, das ursprünglich in eine ganz andere Richtung weist. Es geht um eine zivilrechtlichen Fall, bei dem Schadensersatz gestellt wird. Adam ist gewillt schnell und pragmatisch zu urteilen, zumal er von seiner Straftat ablenken will.

„Der wirkliche Grund für seinen lädierten Fuß und das zerschundene Gesicht ist die Folge eines Missbrauchs, den er in der Nacht zuvor begangen hat: Die junge Eve in deren Zimmer bedrängend, wird er überrascht von ihrem Verlobten Ruprecht und verletzt sich beim flüchtenden Sprung durchs Fenster. Obendrein geht dabei ein Krug entzwei.

Mit diesem zieht Eves Mutter Marthe nun vor Gericht und bezichtigt Ruprecht des nächtlichen Übergriffs. Jener widerspricht heftig, während Eve von Adam erpresst wird und schweigt. Dies alles im Beisein von Schreiber Licht, der klüger und mitwissender ist als er es zeigt, sowie unter den Augen der neuen Gerichtsrätin Walter, die zur Prüfung und Revision der Justiz angereist ist. In aller Öffentlichkeit macht Adam sich demnach selbst den Prozess, wobei sein Ziel offensichtlich ist: Ruprecht als Täter verurteilen und den Fall schnell zu den Akten legen.“ (Programmheft)

Am Ende hat sich der Richter Adam in viele Widersprüche verwickelt. Stück für Stück wird aufgeklärt, wer eigentlich den Krug zu Boden geworfen hat. Eve erzählt, was sich in der Nacht zuvor zugetragen hat und dass nicht Ruprecht das Malheur verursacht, sondern der Dorfrichter nach seinem Übergriff und bei seiner Flucht den Krug zerstört hat. Die Empörung ist groß. Man kündigt an, den überführten Dorfrichter selbst vor Gericht zu stellen. Ungeachtet der drohenden Verurteilung bleibt Adam weiter total gelassen und innerlich unangefochten.

„Was Kleists Drama von 1811 zur Komödie macht, ist vor allem die Dreistigkeit, mit der hier vom Patriarchat Macht ausgeübt, Positionen gesichert und Verhältnisse zementiert werden. Die Wahrheit zählt dabei nicht im Geringsten; stattdessen gilt es, unverfroren und skrupellos jede Verantwortung von sich zu schieben. Gestützt von einer Gesellschaft, die scheinheilig mitspielt – stolz vor ihrem kulturellen Erbe stehend und sich vormachend, es würde sie die Gerechtigkeit interessieren“, heißt es im Programmheft. Kennen wir das nicht in vielfachen Variationen aus den aktuellen Fernsehnachrichten?! (Jörg Bockow)

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