„Corpus Delicti“ im Borchert Theater Münster

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Das Wolfgang Borchert Theater Münster wirft mitten in der Corona-Pandemie mit seiner großartigen Inszenierung von Juli Zehs „Corpus Delicti“ die Frage auf, ob die Wirklichkeit nicht längst die Dystopie überholt hat. Ist die Gesundheitsdiktatur, die die Autorin Juli Zeh bereits 2007 in ihrer düsteren Zukunftsvision als Teufel an die Wand gemalt hat nicht längst bei uns zur bitteren Realität geworden?

„Corpus Delicti“ im Borchert Theater Münster

“Corpus Delicti” im Wolfgang Borchert Theater Münster mit Rosana Cleve, Alessandro Scheuerer und Erika Jell – Foto Klaus Levebvre

„Corpus Delicti“ passt in unsere Zeit wie Faust aufs Auge. Das Stück erscheint wie der kritische und anklagende Subtext zur vergangenen und aktuellen Corona-Politik. Der überwiegende Teil der Bevölkerung hat sich in den beiden zurückliegenden Jahren von Politik und Wissenschaft überzeugen lassen und setzt die verordneten Maßnahmen in großer Verantwortung um. Allerdings gibt es weiter zahlreiche Corona-Leugner, Verschwörungstheoretiker und Impfgegner, die mit ihren Montags-Spaziergängen beharrlich gegen die Zumutungen von Staat und Gesellschaft opponieren. Sie schüren im Namen der Freiheit den Widerstand gegen Gesetz und Ordnung, gegen sämtliche Corona-Maßnahmen, insbesondere gegen die angekündigte allgemeine Impfpflicht.

“Corpus Delicti” im Wolfgang Borchert Theater Münster mit Jürgen Lorenzen, Rosana Cleve und Erika Jell – Foto Klaus Levebvre

Tatsächlich sind die Zumutungen, die jeder von uns in den vergangenen zwei Jahren nach dem Ausbruch von Corona hat ertragen müssen, nicht von der Hand zu weisen. Und ein Ende ist nicht abzusehen. An vielem, was uns in den vergangenen Monaten auferlegt wurde, könnte man zu Recht verzweifeln. Fragen bleiben: Waren und sind Lockdown, Schulschließungen, Mundschutz, Hygienemaßnahmen, Isolierung von Kranken und Alten, Quarantäne und Impfungen tatsächlich die adäquaten Maßnahmen (gewesen), um die Pandemie in den Griff zu bekommen?

„Corpus Delicti“ im Borchert Theater Münster

“Corpus Delicti” im Wolfgang Borchert Theater Münster mit Rosana Cleve – Foto Klaus Levebvre

Das Virus und seine Wege sind unberechenbar und nur schwer zu verstehen. Dadurch wird das Vertrauen in Wissenschaft und Politik jeden Tag aufs Neue auf die Probe gestellt. Wilde Verschwörungstheorien finden einen guten Nährboden. Es geht fast so zu wie in der Utopie von Juli Zeh, die im Deutschland des Jahres 2072 spielt. In dieser Zukunftsvision werden Zweifel und Widerspruch mit aller Macht und unter Androhung harter Strafen unterdrückt.

„Corpus Delicti“ im Borchert Theater Münster

“Corpus Delicti” im Wolfgang Borchert Theater Münster mit Jürgen Lorenzen und Erika Jell – Foto Annika Bade

Im Deutschland des Jahres 2072 organisiert die „Methode“ das gesellschaftliche Leben. Die „Methode“ ist ein System, das allein auf das gesundheitliche Wohl des Kollektivs ausgelegt ist. Abweichungen und Ausnahmen werden nicht geduldet. Tödliche Krankheiten wie Krebs existieren nicht mehr, die Gesellschaft strebt der ultimativen Optimierung entgegen. Ein System, das wie eine traumhafte Utopie klingt, in der die Gesundheit und das Glück aller der Maßstab des staatlichen Handelns zu sein scheint – allerdings realisiert nur mit allen Mitteln eines diktatorischen Überwachungsstaates. Permanent werden die Bürger beobachtet und gescannt, immer mit dem Argument, dass dies im Interesse des Einzelnen und zum Wohle der Gesellschaft geschieht. Die Biologin Mia Holl (großartig: Rosana Cleve) ist eigentlich eine überzeugte und rechtschaffene Verfechterin der Methode. Sie ist die Protagonistin der Geschichte.

„Corpus Delicti“ im Borchert Theater Münster

“Corpus Delicti” im Wolfgang Borchert Theater Münster mit Rosana Cleve – Foto Klaus Levebvre

Erst als ihr Bruder (Alessandro Scheuerer) per DNA-Test des Mordes überführt und angeklagt wird, gerät sie in einen Gewissenskonflikt. Kann ihr Bruder denn ein Mörder sein? Für das System ist der Fall eindeutig und klar. Der Selbstmord des Bruders mit der von Mia ins Gefängnis eingeschleusten Angelschnur erscheint wie ein indirektes Geständnis. Doch Mia beginnt, die „Methode“ in Frage zu stellen.

„Corpus Delicti“ im Borchert Theater Münster

“Corpus Delicti” im Wolfgang Borchert Theater Münster mit Alessandro Scheuerer – Foto Klaus Levebvre

Es dauert nicht lange, bis ihre Zweifel vom System bei ihrer laufenden Überwachung bemerkt werden und sie sich mächtige Feinde macht. Der parteiische Journalist und Buchautor (wunderbar: Jürgen Lorenzen) stellt ihr nach und macht ihr im Interesse des Systems Druck. Ihre Gesundheitsdaten sind komplett durcheinander. Ihre Werte sind nicht mehr im Normalbereich. Mia Holl ernährt sich falsch, treibt keinen Sport und raucht sogar. Die Zweifel von Mia Holl an der Schuld ihres Bruders wecken den Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung. Sie mag sich nicht mehr den Vorschriften fügen und erinnert sich daran, dass auch ihr Bruder eigene Wege gegangen ist und ein Freidenker war. Mia Holl wird vor Gericht angeklagt. Das Urteil ist entsetzlich: Sie soll zur Strafe eingefroren werden …

“Corpus Delicti” im Wolfgang Borchert Theater Münster mit Ivana Langmajer und Rosana Cleve – Foto Klaus Levebvre

Juli Zehs Stück „Corpus Delicti“ ist klug wie ein Gerichtsdrama und raffiniert wie Lehrstück entwickelt, präzise formuliert und steuert gradlinig auf ein desillusionierendes Ende zu. Nein, eine solche Zukunft wollen wir nicht. Auf keinen Fall.

Der Zuschauer bleibt nicht unbeteiligt, er muss Stellung beziehen, spätestens wenn er als Beobachter des Gerichtsprozesses direkt und unmittelbar in das Stück einbezogen wird. Das erinnert an die Stücke „Terror“ und „Gott“ des Dramatikers Ferdinand von Schirach.

Regisseurin Tanja Weidner bezieht den Zuschauer mit beinahe diebischer Freude von Anfang an – beinahe unbemerkt – in ihre Inszenierung ein: Am Eingang des Theaters werden die Einhaltung der Corona-Regeln, Tests und Impfstatus und auch der Personalausweis kritisch geprüft als beträte man einen Hochsicherheitstrakt. So weit so gut. Längst ist das nichts Neues mehr. Das Prozedere haben wir gelernt, auch wenn sich vermutlich bei jedem innerlich jedes Mal wieder ein leiser Widerspruch regt.

“Corpus Delicti” im Wolfgang Borchert Theater Münster mit Jürgen Lorenzen, Rosana Cleve und Erika Jell – Foto Klaus Levebvre

Einige Schritte weiter wird beim Eintritt in den Zuschauerraum von jedem Zuschauer in einer eigens hergerichteten Videobox ein Foto geschossen, das – wie der Zuschauer einige Minuten später erfährt – als Teil der Inszenierung für einen Gesundheitsscheck genutzt wird. Das wären eigentlich die Vorzeichen eines allmächtigen und übergriffigen Überwachungsstaates. Doch es regt sich kein Widerstand. Mitunter vielleicht ein leises Murren. Die meisten fügen sich in das Prozedere.

Dahinter wartet bereits die nächste Kontrolle. Auch die gehört zur Inszenierung: Eine junge Dame leuchtet jedem Besucher mit einer Taschenlampe ins Gesicht, blickt auf seine Eintrittskarte und scheint mit ihrem Smartphone die Person zu scannen und mit vorliegenden Daten abzugleichen. Ihr kritischer Blick geht auf ihr (leeres) Display und mit einem Nicken gibt sie darauf den Zutritt frei. So ist der Zuschauer bereits mitten im Stück, das Tanja Weidner mit flackernden Displays, mehreren Videokameras, Videoprojektionen und für jeweils 20 Zuschauerinnen und Zuschauer auf eigenen Plätzen auf der Bühne mit VR-Brillen nur scheinbar in die Zukunft verlegt hat. Denn die Zukunft ist die Gegenwart – zumindest die Gegenwart des Theaters.

„Corpus Delicti“ im Borchert Theater Münster

“Corpus Delicti” im Wolfgang Borchert Theater Münster mit Jürgen Lorenzen und Florian Bender – Foto Klaus Levebvre

„Corpus Delicti“ ist eine Produktion, bei der das Borchert Theater von seinen dramaturgischen Möglichkeiten und seinem technischen Aufwand her an seine Grenzen geht. Die Experimentierfreude, die da zum Einsatz kommt, ist großartig. Mehr geht nicht!

Das Ensemble kommt – scheinbar durch so viel eingesetzter Video-Technik herausgefordert – zu Höchstleistungen. Denn beim Spiel muss jede Geste stimmen. Jede Positionierung auf der Bühne und im Zuschauerraum ist auf den Millimeter für das Auge der Kameras geplant und festgelegt. Rosana Cleve, Erika Jell, Ivana Langmajer, Alessandro Scheuerer, Florian Bender und nicht zuletzt Jürgen Lorenzen agieren mit einer großartigen Performance. Es ist als wenn sie sich gegenseitig beflügelten. Dank der Regieleistung nutzen die Schauspielerinnen und Schauspieler die Technik ohne sich von ihr unterkriegen zu lassen. Alleine das zu erleben ist atemberaubend!

Tanja Weidner reizt mit ihrer vielschichtigen Inszenierung die Möglichkeiten des Theaters im Zusammenspiel mit den neuesten technischen und digitalen Möglichkeiten aus. Sie wirft einen mutigen, experimentierfreudigen Blick in die digitale Zukunft – auch die des Theaters.

An Rückprojektionen und virtuelle Bühnenbilder haben wir uns inzwischen gewöhnt. Sie gehören auf fast allen Bühnen der Welt zum technischen Standard. Ob allerdings Virtual Reality die Zukunft des Theaters revolutionieren wird, kann ich mir kaum vorstellen. Theater fasziniert vor allem durch das Live-Erlebnis und die gemeinsame Erfahrung in einem Theatersaal. Die Zuspieler für die Virtual Reality kommen aus der Retorte und erinnern daher mehr an das einsame Erlebnis vor dem heimischen Bildschirm. Das mag überwältigend sein – mit Theater hat es nicht viel zu tun.

Die 3D-Zuspieler, die an mehreren Stellen (für die ausgewählt Zuschauer auf der Bühne mit ihren VR-Brillen) wie Rückblenden funktionieren, sind faszinierend, ohne Frage, doch schnell erliegt man ihrem Reiz und schaltet dabei mit trockenem Mund sein Gehirn aus. Virtual Reality kann wie in „Corpus Delicti“ gezeigt eine faszinierende dramaturgische Ergänzung sein, mehr aber wohl nicht. Für den Zuschauer mündet das Multivisions-Spektakel mitunter in eine totale Reizüberflutung, in der man sich taumelnd und Halt suchend wie in einem Drogentrip bewegt. (Jörg Bockow)

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