„Der Sandmann“: Ein Alptraum am Borchert Theater

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Mit der Premiere von „Der Sandmann“ startet das Wolfgang Borchert Theater in Münster grandios in die neue Spielzeit. Was die neapolitanische Autorin und Regisseurin Luisa Guarro gemeinsam mit dem Licht-Designer Paco Summonte und den wundervoll agierenden Schauspielern des Ensembles auf die Bühne gebracht hat, ist im doppelten Sinne der schiere Wahnsinn.

„Der Sandmann“: Ein Alptraum am Borchert Theater

“Der Sandmann” am Wolfgang Borchert Theater mit Florian Bender und Markus Hennes – Foto Klaus Lefebvre

„Der Sandmann“ ist, Luisa Guarro sei Dank, ein fantastischer Bilderreigen, der zwischen Wahn und Wirklichkeit oszilliert und der literarischen Vorlage neue Seiten abgewinnt. Guarro betrachtet die Ereignisse nicht von außen, sondern sie sieht und inszeniert diese aus der paranoiden, subjektiven Perspektive des Protagonisten. Die Regisseurin nutzt tiefenpsychologische Symbole und spielt mit den Interpretationen eines Sigmund Freud. Die Inszenierung stellt Fragen nach der Macht des Unterbewusstseins und der Gefühle, nach dem Widerstreit von Rationalität und Emotionalität, nach Mythos, Wissenschaft, Fortschritt und den Untiefen des menschlichen Miteinanders. Als Zuschauer wird man in einen unheimlichen Strudel aus Schuld und Sühne hineingesogen, man beginnt die Welt mit dem irren Blick der Hauptperson zu betrachten.

„Der Sandmann“: Ein Alptraum am Borchert Theater

“Der Sandmann” am Wolfgang Borchert Theater mit Markus Hennes als Student Nathanael – Foto Klaus Lefebvre

Im Mittelpunkt des Stückes, nach der berühmten Novelle von E.T.A Hoffmann dramatisiert und inszeniert, steht der Student Nathanael (brillant verkörpert von Markus Hennes). Er ist unentrinnbar verstrickt in seine wirren Gedanken und aufgewühlten Gefühle, Fantasien und Wahnvorstellungen. Diese sind so düster und bedrängend, so klaustrophobisch und schmerzerfüllt wie die schwarze Zelle des Gefängnisses oder der herzlosen Irrenanstalt, in die er eingesperrt und isoliert worden ist. Wer hier einmal hineingeraten ist, der kommt nicht mehr lebend heraus. Durch kleine Sehschlitze wird er beobachtet wie ein Tier, ein Gefangener oder ein gefährlicher Psychopath. Und obwohl Nathanael mit so viel Energie und mit so viel Grazie zu Beginn des Stückes über die Bühne tanzt und seine romantische Verklärung und Sehnsucht in Bewegung übersetzt, das tragische Ende schwingt da bereits permanent mit.

Der Sandmann kommt

“Der Sandmann” am Wolfgang Borchert Theater mit Ivana Langmajer und Jürgen Lorenzen – Foto Klaus Lefebvre

Von Kindesbeinen an plagt den Studenten eine grausame Vision. Denn als sein Vater bei einem alchemistischen Experiment des Advokaten Coppelius ums Leben kommt, sieht Nathanael in diesem die Gestalt des furchteinflößenden Sandmanns, einer mythischen Figur, von der seine Mutter einst erzählte, um ihn ins Bett und in den Schlaf zu bringen. Aus dem Sandmännchen ist in seiner Fantasie ein böser Geist geworden. Die Regisseurin sagt dazu mit einem tiefenpsychologischen Verständnis: „Nathanael wurde durch den Tod des Vaters traumatisiert. In seinem Schmerz empfindet er eine absolute Liebe zu seiner Mutter, doch dadurch auch große Schuld. Diese projiziert er auf einen rivalisierenden Vater, der sich in der negativen Vaterfigur des Coppelius manifestiert, der ihn aus Rache kastriert.“

Olimpia ist ein Homunkulus

“Der Sandmann” am Wolfgang Borchert Theater mit Ivana Langmajer als Olimpia und Markus Hennes als Nathanael – Foto Klaus Lefebvre

In seinen immer wiederkehrenden Alpträumen raubt der Sandmann den Menschen das Augenlicht und schneidet ihnen mit einer Art medizinischem Instrument die Augäpfel aus dem Kopf. Übrig bleiben nur schwarze Löcher, während die herausgetrennten Augäpfel wie kostbare Glasmurmeln in einem Glas gesammelt werden. Einen furchtbareren Alptraum kann man sich kaum mehr ausmalen. Luisa Guarro hat dafür drastische Bilder gefunden, denen man sich kaum entziehen kann. Sie greift dafür mit waberndem Theaternebel, gleißendem Scheinwerferlicht mit bedrohlichen Schlagschatten, einem dramatischen Musikscore und Zauberstückchen tief in die Theatertrickkiste. Man kann den Blick nicht davon lassen, obwohl man sich eigentlich wie ein verängstigtes Kind seine Hände erschrocken vor das Gesicht schlagen möchte.

„Der Sandmann“: Ein Alptraum am Borchert Theater

“Der Sandmann” am Wolfgang Borchert Theater mit Markus Hennes – Foto Klaus Lefebvre

Viele Jahre später klopft ein unheimlicher italienscher Brillenverkäufer an die Tür mit Namen Coppola und entfacht in einer Art Déjà-vu die traumatischen Erinnerungen erneut. Ist Coppola mit dem Advokaten Coppelius identisch? Nathanael versinkt tiefer und tiefer in seinen Wahnvorstellungen. Darunter leidet auch die Beziehung zu seiner wunderschönen, aber nüchternen Verlobten Clara (Rosana Cleve), die seine Ängste als kindischen Irrglauben abtut.

Nathanael ist dem Wahnsinn nahe

“Der Sandmann” am Wolfgang Borchert Theater mit Markus Hennes – Foto Klaus Lefebvre

Während Nathanael an die Grenzen seines Verstandes geführt wird, tritt die wundersame Olimpia, die vermeintliche Tochter von Professor Spalanzani in sein Leben – eine Frau, die keine Fragen stellt und ihn stets bewundert. Ist das die Liebe, die sich Nathanael immer gewünscht und erhofft hat …? Doch Olimpia (wunderbar gespielt von Ivana Langmajer, die in einer Doppelrolle auch die Mutter von Nathanael verkörpert) entpuppt sich als ein seelenloser Automat und Homunkulus. Sie ist eine Art Projektion von Nathanaels Sehnsüchten. Als Nathanael das erkennt wird ihm bewusst, dass es in seiner Welt keine Liebe und keinen Halt mehr gibt. Selbst die tiefenpsychologische Sitzung mit seinem Psychotherapeuten (überzeugend von Jürgen Lorenzen verkörpert – wie auch die von ihm gespielten Personen Coppelius und Coppola), einer Inkarnation des großen Sigmund Freud, kann ihn nicht wieder zurück in die Wirklichkeit holen. Sein Unterbewusstes und sein Wahn übernehmen die Macht über ihn. Das aber ist sein Untergang. Der Tod ist unvermeidlich.

„Der Sandmann“: Ein Alptraum am Borchert Theater

Dem Tod geweiht: “Der Sandmann” am Wolfgang Borchert Theater mit Florian Bender und Markus Hennes – Foto Klaus Lefebvre

Die Inszenierung “Der Sandmann” von Luisa Guarro weckt allerhöchste Erwartungen an die neue Spielzeit. Die Messlatte liegt mit diesem Theaterabend hoch. Überragend! (Jörg Bockow)

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