Recklinghausen: Das Ende ist nah

Recklinghausen – Das war kein Abend der leisen Töne: Der Tanzabend „Grand Finale“ des israelischen Choreografen Hofesh Shechter bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen imaginiert den nahenden Weltuntergang mit düsteren, geradezu schmerzenden Bildern und schier unglaublichen Szenen. Hofesh Shechter lässt dazu mit stampfenden Rhythmen, harten Beats, hämmernden Percussions und wummernden Bässen aus Subwoofern nicht nur die Puppen seines Ensembles tanzen, sondern attackiert das Publikum gleich mit, so als wolle er es mit schwerem Gerät wachrütteln.  Am Eingang werden vorsichtshalber Hörstöpsel ausgegeben, mit denen man seine Gehörgänge hätte schützen können.

Tanztheater “Grand Finale” von Hofesh Shechter  bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen – Foto: Rahi Rezvani

Das Publikum wird vom übermächtigen Sound förmlich in die Sitze gepresst. Der Musik-Score läuft über die volle Distanz auf höchstem Level was die Lautstärke und den atemlosen Rhythmus angeht. Musikkonserve und Live-Spiel wechseln sich ab, gehen kongenial in einander über und verschmelzen zu einem immer wieder überraschenden Sound. Arabische Tänze, Klezmerklänge und zum Schluss gar mit „Lippen schweigen“ aus Franz Léhars „Lustiger Witwe“ ein Walzer wechselten sich ab mit dem Soundteppich einer Techno-Disco mit seinen minutenlangen Schleifen. Mitunter sieht man sich in die Anfänge des Katastrophenfilms im Kino versetzt, wo einem in ähnlicher Weise, ob der tiefen Töne mit Sensurround-Effekt die Hosenbeine flatterten und das Augenwasser Wellen schlug.

Tanztheater “Grand Finale” von Hofesh Shechter bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen – Foto: Rahi Rezvani

„Grand Finale“  ist ein Danse Macabre: schwarz, pessimistisch, ja geradezu apokalyptisch. Das Ensemble tanzt in einem dunklen, nebelverhangenen Raum, indem es nur wenige Lichthöfe und dafür viel Schatten gibt. Beweglich Wände verändern den Raum, verdrängen die Tänzer oder bieten ihnen nur einen beengten Platz. Die massiven dunklen Raumteiler sind permanent in Bewegung, womit auch das kleine Orchester an mehreren Stellen auf der Bühne auftauchen kann und plötzlich wie von Zauberhand gesteuert wieder im Nebel verschwindet. Durch solche Taschenspielertricks wird die Bühne zu einem magischen Raum.

„Shechters Tanzabende sind Bild- und Klang-Explosionen, die mit roher Kraft über die Bühne fegen“, hatte das Programmheft angekündigt.  Wer mag kann sich mit der Choreographie auf Assoziationen einlassen von einer Welt, die vollkommen aus den Fugen geraten ist und am Abgrund steht: Die zerrissene Gesellschaften, Bürgerkriege, Flüchtlingsströme, Klimakatastrophe, Atomkrieg – der Weltenbrand. Alles wird irgendwie angespielt, bis am Ende gar Leichenberge auf der Bühne aufgeschichtet werden. Es sind starke, traumatisierende Bilder, die sich einem wie Schocks einbrennen und nicht mehr aus dem Kopf gehen wollen. Die Tänzer richten wiederholt ihren Blick nach oben, gen Himmel, beschwören mit flehenden Händen die Gnade eines Gottes. Zeichen von Hoffnung gibt es bei aller Apokalypse auch – sehr kleine freilich. Ihre Botschaft: Nur wenn die Gemeinschaft wieder in Liebe, Vertrautheit und Zärtlichkeit zusammen findet, kann sie die aktuellen Krisen überwinden. Das ist nicht wirklich neu, wird aber bei Hofesh Shechter sehr innovativ vertanzt.

Tanztheater “Grand Finale” von Hofesh Shechter bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen – Foto: Rahi Rezvani

Das zehnköpfige Ensemble bewegt sich entfesselt in einem kollektiven Furor als wolle es der Partitur förmlich aus der Rille springen. Dabei folgen die Tänzerinnen und Tänzer  einer höchstpräzisen Gruppen-Choreografie, in der jeder Schritt und jede Geste, alle Bewegungen und Positionen vorgegeben ist. Phantastisch sind jene Passagen, in denen die Tänzerinnen als leblose Puppen am Boden liegen und von je einem Tänzer animiert und bewegt werden. Die Tänzerinnen lassen sich völlig schlaff und hingegeben  bewegen als wären sie tiefenentspannt oder mit K.O.-Tropfen völlig narkotisiert. Dadurch entstehen geschmeidige Bewegungen, zärtliche Begegnungen und  erstaunliche Tanzformationen.

Der in London lebende israelische Choreograf gilt als einer der wichtigsten und innovativsten Vertreter des zeitgenössischen Tanzes in Europa. Shechter begann nach einem Studium an der Jerusalem Academy of Music and Dance als Tänzer bei der Batsheva Dance Company in Tel Aviv. Bei ihm steht das Ensemble im Mittelpunkt, ihm haben sich die individuellen Talente seiner Tänzerinnen und Tänzer unterzuordnen. Der ursprünglich als Pianist und Schlagzeuger ausgebildete Künstler hat auch für sein neues Stück die Musik selbst entworfen und aus vielen Versatzstücken kompiliert. Sie wird von einer virtuosen und unglaublichen vielseitigen Liveband gespielt und von seinem Ensemble mit unbändiger Energie vertanzt.

Das Ensemble wirbelt in ebenso athletischer wie artistischer Weise über die Bühne, dass einem Hören und Sehen vergehen. Es ist pure Energie, die da auf der Bühne zu sehen ist. Das Zusammenspiel und die Synchronizität sind von überwältigender Präzision und funktionieren in einer atemberaubenden Übereinstimmung.

Das Ende ist nah: Die Tänzer haben den Tod, die Apokalypse vor Augen. Flucht und Kampf, Sterben und Wieder-Auferstehen sind die formgebenden Prinzipien dieses martialischen Totentanzes. Wir ahnen, die Hölle ist kein Ort der Stille. Aus mitunter ohrenbetäubendem Krach formt sich Musik, hoch emotional und mitreißend, romantisch bis kriegerisch mitunter so militärisch und mitreißend wie der Marsch, der zum Kampf ruft und am Ende mit der verlorenen Schlacht direkt in den tödlichen Niedergang führt.

„Grand Finale“ von Choreograf Hofesh Shechter ist ein wuchtiger Tanztheaterabend wie man ihn noch nie gesehen hat. Das Publikum bedachte die Aufführung in Recklinghausen mit einem langanhaltenden, frenetischen Applaus und Begeisterungsstürmen. (Jörg Bockow)

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