Die Erwartungen sind hoch. Das Wolfgang Borchert Theater präsentiert als Eröffnungspremiere der Spielzeit 2018/19 das Stück „Willkommen“, eine zeitkritische Komödie, die sich mit der Toleranz gegenüber Migranten beschäftigt. Das Stück stammt aus der versierten und pointenreichen Feder von Lutz Hübner und Sarah Nemitz. Sie haben bereits mit ihren Stücken „Wunschkinder“ und „Frau Müller muss weg“ im WBT große Erfolge feiern können. „Willkommen“ hat das Potenzial der neue Dauerbrenner im Borchert Theater zu werden: Es trifft die aktuelle, teilweise abstruse Diskussion um den Umgang mit den Migranten auf den Punkt. Hier kann sich jeder, welche Position auch immer er vertritt, wiedererkennen.
Regisseur Hartmut Uhlemann, der zuletzt am Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg Regie führte, inszeniert die Geschichte in einer altersgemischten Wohngemeinschaft, was zu spannenden neuen Konstellationen führt. Das Stück spielt im Hier und Jetzt. Die WG lebt in einer mehr als 200 Quadratmeter großen Luxuswohnung inmitten von Münster. Dort gibt es sogar eine Dachterrasse, auf der man sich hüllenlos sonnen kann. Benny, einer der Fünf, arbeitet in der Flüchtlingsunterkunft um die Ecke. Das Publikum hockt gewissermaßen mit am Tisch der Wohngemeinschaft.
Ihr WBT-Debüt als Schauspieler geben Ivana Langmajer und Atilla Oener. Ivana Langmajer, die als letztes an der Landesbühne Rheinland-Pfalz arbeitete, ergänzt das feste Ensemble. Der gebürtige Duisburger Atilla Oener lebt in Berlin, wo er als Schauspieler und Autor arbeitet.
„Willkommen“ spielt vor der Folie einer durch das Thema Flüchtlinge zerrissenen Gesellschaft. Der Satz „Wir schaffen das“ der Kanzlerin aus dem Jahr 2015 klingt noch in den Ohren, den einen als Herausforderung, Ermutigung und permanente Motivation, den anderen als Horrorszenario und rotes Tuch. Das Erstarken der extremen Rechten in den vergangenen drei Jahren, die in der „Migration die Mutter aller aktuellen Probleme“ sehen wollen, steht als Warnung vor Augen. Die Kundgebungen von Kandel, Chemnitz und aktuell von Rostock haben erschreckende Zeichen gesetzt. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist in Gefahr. Es gilt wachsenden Vorurteilen entgegenzutreten. Ganz so wie in der kleinen Wohngemeinschaft aus „Willkommen“, die völlig überraschend vor neuen Herausforderungen steht.
Die münsteraner WG hat sich zum Essen zusammengefunden. Es ist einer der Abende, an dem aktuelle Probleme des Zusammenlebens besprochen werden. Die beiden Autoren bedienen genüsslich alle Klischees der WG-Romantik. WG-Erfahrene erkennen nächtelange Diskussionen wieder, Unerfahrene fühlen sich in ihren Vorurteilen wundervoll bestätigt. Abwasch, Einkauf, Sauberkeit stehen normalerweise auf der Tagesordnung. Anglistikdozent Benny (Johannes Langer) eröffnet seinen Mitbewohnern, dass er für ein Jahr lang nach New York ziehen wird, weil er dort einen Lehrauftrag hat. Er freut sich zudem, weil er dann mit seinem homosexuellen Freund zusammenleben kann.
Die Mitbewohner sind ob dieser Eröffnung überrascht. Keiner hat das erahnen können. Selbst die ehemalige Freundin Sophie (Ivana Langmajer) fällt aus allen Wolken. Sprachlos sind aber alle, als Benny ihnen darüber hinaus noch den Vorschlag unterbreitet, sein Zimmer für ein Jahr Flüchtlingen zu überlassen. Doch niemand solle überfahren werden. Erst wenn alle wirklich einverstanden sind, soll tatsächlich so verfahren werden. Die Diskussion ist eröffnet.
Für die Verwaltungsangestellte Doro (ein wenig trinkfreudig und mit brutaler Offenheit: Monika Hess-Zanger) erklärt unmissverständlich, dass sie sich ein Zusammenleben mit Arabern, zumal arabischen Machos, nicht vorstellen könne. Sie legt unmittelbar ihr Veto ein. Nichts und niemand solle den Versuch unternehmen, in ihrem privaten Bereich die Regeln des Grundgesetzes, die Errungenschaften des Feminismus und der Popkultur in Frage zu stellen. Sie befürchtet dauerhafte Respektlosigkeit durch Flüchtlinge als Mitbewohner.
Ihr lautstarker Einspruch gegen arabische Männer bedient zugleich alle Klischees und Vorurteile gegenüber Muslimen. Allerdings bekommt sie durch ihre drastischen, nichts destotrotz ironischen Bemerkungen die stille Zustimmung des Publikum. Schenkelklopfende Heiterkeit allerorten. Ein bisschen hat sie mit ihren Ansichten doch wohl Recht, und man darf doch so etwas auch einmal „sagen dürfen“?! Den Autoren Lutz Hübner und Sarah Nemitz gelingt es voller Ironie, die Schwierigkeiten einer offenen Auseinandersetzung über das Thema Flüchtlinge aufzuzeigen. Sie ist ein mühevoller Prozess. Und jeder im Publikum wird sich an der ein oder anderen Stelle wiedererkennen und zugleich ertappt fühlen.
Ab da überschlagen sich die Einsprüche und Erwiderungen derart schnell und voller Pointen, dass man als Zuschauer und Beteiligter am Esstisch der WG permanent geistige Purzelbäume schlagen muss. Kaum hat man sich auf die Seite geschlagen, übertölpelt einen auch schon der nächste. Schnell werden eigene Vorurteile deutlich und als offen oder versteckt rassistisch entlarvt.
Schließlich bekommt auch jeder der Anwesenden sein Fett weg. Die Diskussion wird zum irrwitzigen Seelenstriptease. Eine delikate Information nach der anderen und manches intime Geständnis werden „veröffentlicht“. Manches geht unter die Gürtellinie – gewürzt mit wunderbaren Pointen. Aber Lutz Hübner und Sarah Nemitz machen keine Pointen zu Lasten ihrer Figuren – eher bleibt dem Publikum das Lachen im Halse stecken.
Die Fotografin Sophie (eine auf Highheels daher stolzierende, kühle, mondäne Blondine: Ivana Langmajer) outet sich als Idealistin und bekennender „Gutmensch“. Sie ist als Hauptmieterin mit dem Hilfsangebot an Flüchtlinge einverstanden, wittert sie zugleich ein mögliches Kunst-Projekt, mit dem sie vielleicht einmal groß rauskommen kann. Entgegen allen Vorbehalten der Anderen unterstützt sie Bennys Vorschlag. Auf dem Höhepunkt der Diskussion schmeißt sie genervt ihre Mitbewohner aus der Luxuswohnung und kündigt ihnen den Mietvertrag, um dann aber von ihrem Vater, den sie hilfesuchend anruft, zu erfahren, dass er ihr als Finanzier der Wohnung schlankweg verbietet, sich als „Mutter Theresa der Flüchtlinge“ zu gebärden.
Die Diskussion um Flüchtlingen wird turbulent, nachdem Anna (ein bisschen langweilig, unentschieden und darüber hinaus auch noch eine bekennende Veganerin: Rosana Cleve), das wortkarge Nesthäkchen der WG, ihren Mitbewohner gesteht, dass sie schwanger ist und zwar von einem durchaus witzigen und sehr wortgewandten Deutschtürken aus Herne. Achmed (powervoll, mit großer körperlichen Präsenz und mit köstlichen Bemerkungen: Atila Oener) ist dort als Sozialarbeiter in einer Fahrradwerkstatt engagiert. Von seinen ihm anvertrauten Zöglingen, ebenfalls Deutschtürken, hält er offenbar nicht viel. Er bezeichnet sie mit der Direktheit eines Ruhrpottlers als „faule Kanaken“.
Als Achmed an dem Abend überraschend zu Besuch kommt, um sich als neuer Partner von Anna vorzustellen, sind die Mitbewohner der WG einerseits fasziniert und andererseits schockiert, weil Achmed bei allem Charme so viele rechte Ressentiments gegenüber Flüchtlingen artikuliert, dass einem die Ohren klingeln.
Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung flüchtet sich die WG-Gemeinschaft in einen faulen Kompromiss: Es wird kein Flüchtling aufgenommen. Der Deutschtürke Achmed wird ebenfalls nicht in das Zimmer einziehen. Aus Bennys freier Bude wird ein Gästezimmer. So geht man allen Konflikten fein aus dem Weg. Achmed darf hier ab und an übernachten. In das leere Zimmer wird die Tischtennisplatte einziehen, die die Gemeinschaft beim Pingpong wieder vereinen soll. Der Kompromiss ist ein fades Happy End, das aus der politischen Komödie mit Widerhaken vollends ein Boulevardstück macht. Höchst unterhaltsam zwar, aber mit gebremsten Nährwert. Das Publikum verlässt beschwingt und nach langanhaltendem, frenetischem Applaus das Theater.
Am Ende sind alle versöhnt, ohne dass sie wirklich zur Tat geschritten wären und ohne für ihre Überzeugungen eintreten zu müssen. Der Kompromiss tut niemandem weh. Gelernt haben die Protagomnisten beim wortreichen Pingpong nicht viel – am ehesten vielleicht versöhnlich zu sein und zu ihren privaten Wünschen und Bedürfnissen zu stehen. Verändern mögen sich bitteschön die anderen. Auch das Publikum ist erleichtet. Statt Position beziehen zu müssen, freut man sich über den netten Ausgang. Wie wär‘s zum Abschluss mit einem Bierchen oder einem Notfallchampus? Die Welt wird sich so nicht ändern. Schade eigentlich. (Jörg Bockow)
Wolfgang Borchert Theater / Am Mittelhafen 10 / 48155 Münster
Ticket-Telefon 0251 – 40019
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