Ruhrtriennale: Auf dem Abstellgleis

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Westfalen – Sinnfälliger kann eine Theaterbühne kaum sein. Die Ruhrtriennale eröffnete in Dinslaken ihren diesjährigen Festpielreigen in der ehemaligen Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg – eine monströse Industriekathedrale von 210 Metern Länge, 65 Metern Breite und 35 Meter Höhe. Die beängstigend große Halle bildet einen Korpus, der von Ferne aussieht wie ein kieloben liegender gestrandeter Ozeanriese.

Johan Simons hat die Theateradaption von Pier Paolo Pasolinis Film "Accattone" als Auftakt der Ruhrtriennale 2015 inszeniert - Fotos: Julian Röder/Ruhrtriennale

Johan Simons hat die Theateradaption von Pier Paolo Pasolinis Film “Accattone” als Auftakt der Ruhrtriennale 2015 inszeniert – Fotos: Julian Röder/Ruhrtriennale

Zurückgeblieben vom einstigen Ort der Arbeit ist nur noch die Schotterwüste unter dem Hallendach, durch das das Publikum bis zur Zuschauertribüne stöckeln und staksen muss – eine bewusst in Kauf genommene Zumutung für die Besucher. Inmitten dieser trostlosen Szenerie, die fast bis zum Horizont  reicht, befinden sich ein paar Müllbehälter, ein Metallcontainer und ein Abstellgleis. Zusammengenommen bildet das eine existentialistische Szenerie. Einziger Kontrast und Hoffnungsschimmer: Das Birkenwäldchen, das sich jenseits der Zuschauertribüne auftut, aber im Verlauf des Dramas zusehends im Dunkeln verschwindet, so dass die Konzentration immer weiter zunimmt.

Johan Simons, der neue Intendant der Ruhrtriennale, hat das Industriemonument für die Ruhrtriennale entdeckt. Sein Motto für das Festival „Seid umschlungen“ will er an diesem bedeutungsschwangeren Ort umsetzen. Jeder Stein, jede Strebe und jeder Weg gibt unübersehbar Zeugnis für die Vergangenheit ab.

 

"Accattone" steuert unaufhaltsam auf sein Ende hin

“Accattone” (Stephen Scharf) steuert unaufhaltsam auf sein Ende hin

Die Spielstätte ist nicht schick und kommod hergerichtet wie etwa die Bochumer Jahrhunderthalle. Die Kohlenmischanlage Lohberg ist weit davon entfernt ein pittoresker oder charmanter Ort zu sein. Sie ist kantig, rauh, zugig, unbequem, dabei wirklichkeitsnah und zudem ein Dokument der knochenharten Arbeit und des entbehrungsreichen Lebens, das die Leute im Pott einst bestritten. Zugleich ist es ein Ort, der wie geschaffen ist für das Stück „Accattone“, mit dem die Ruhrtriennale 2015 gerade erst eröffnet wurde.

„Accatone“ ist vielleicht mehr Musiktheater, denn Schauspiel. Musik spielt eine entscheidende, sinnstiftende Rolle. Entstanden ist das Stück nach dem gleichnamigen Spielfilm von Pier Paolo Pasolini. Die Bühnenfassung stammt von Koen Tachelet. Die Eröffnung der Ruhrtriennale ist zugleich die Uraufführung des Stückes.

Simons hat die Adaption selbst eingerichtet. Sie ist Duftmarke und Statement des neuen Intendanten. Dabei ist Mainstream mit Simons nicht zu machen. Gefallen ist keine Kategorie für ihn. Politisch will er sein und anecken will er auch. Schaut man sich die Verstörung der Zuschauer nach der Aufführung an, dann ist ihm dies gelungen. Beklatscht werden vor allem die Sänger und das hervorragende Orchester, beklatscht werden die Schauspieler. Das Publikum diskutiert im Anschluss angeregt und kontrovers, was ja nicht das schlechteste nach einer Theateraufführung ist.

Starke Bilder: Das Stück "Accattone" entwickelt sich in der Tiefe des Raumes. Die ehemalige Kohlenmischhalle misst 210 Metter in der Länge

Starke Bilder: Das Stück “Accattone” entwickelt sich in der Tiefe des Raumes. Die ehemalige Kohlenmischhalle misst 210 Metter in der Länge

Bereits im Vorfeld hat es um die Inszenierung Diskussionen in Dinslaken gegeben. Simons hat auf die kritischen Einwürfe des Bürgermeisters, die dieser in einem offenen Brief geäußert hat, er benutze die Industriehalle nur als eine Kulisse, während die sozialen Konflikte in der Stadt nach einem ganz anderen Engagement verlangten, offen reagiert. Er hat sich in der Stadt dem Gespräch mit der Bevölkerung gestellt und auch die Eröffnung der Ruhrtriennale zu einer Auseinandersetzung mit den sozialen Problemen im Ruhrgebiet genutzt. Statt der sonst üblichen Sonntagsreden bei der Eröffnung der Ruhrtriennale, gab es Stoff zum Nachdenken und diskutieren. Dabei wurde klar, unter seiner Intendanz will Simons intensiv auf die teilweise noch ungelösten Transformationsprozesse in der Region reagieren und zu Auseinandersetzungen anstossen. Seine Anspruch aber, mit “Accattone” ein Theater für alle zu machen, dürfte sich nicht erfüllen. Auf den Rängen sass, genau wie dies der Bürgermeister von Dinslaken vorausgesagt hatte, ein elitär, bildungsbürgerliches Publikum, das nach der Aufführung schnellstens, gewissermaßen sich auf dem Absatz abrehte und auf Nimmerwiedersehen aus Lohberg wieder verschwand.

Die Vorlage zu dem Theaterabend bildet der 1961 entstandene Schwarz-Weiß-Film des zu seiner Zeit ebenso glühenden wie umstrittenen Kommunisten und Christen Pier Paolo Pasolini. Das Erstlingswerk  zeigt das hoffnungslose Leben des Subproletariats am Rand von Rom. Für Pasolini verband sich damit die Idee, es sei geradezu bestimmt dafür, gesellschaftliche Veränderungen oder gar die Revolution anzustoßen, weil das Subproletariat im Unterschied zur Arbeiterklasse nichts mehr zu verlieren habe.

„Accattone“ – zu Deutsch: Bettler – und seine Kumpanen sind eine kleine, amoralische und asoziale Gruppe von Ausgestoßenen, Arbeitslosen, Bettler, Dieben, Zuhälter und ihre Huren. Sie gehen auf einander los, beklauen einander und benutzen sich wechselseitig. Selbst die junge und schöne Stella, eine echte Lichtgestalt, von der Accattone behauptet, sie wirklich zu lieben, wird von ihm auf den Strich geschickt. Mitgefühl und Menschlichkeit sind ins Gegenteil verkehrt. Schon Pasolini hatte diese Geschichte zu einer auf den Kopf gestellten Passionsgeschichte stilisiert. Die Handlung wird kontrastiert und kommentiert durch Ausschnitte der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach.

Johann Simons nutzt diese Zwiesprache zwischen dem Spiel der Protagonisten und den musikalischen Kommentaren noch intensiver als dies Pasolini gemacht hat. Er setzt zusätzliche Bach-Kantaten ein, die wie für die Leidensgeschichte des „Accattone“ geschrieben erscheinen.

Das Orchester und die Sänger sitzen auf einem Podest im Bühnenraum. Es spielt das Collegium Vocale Gent unter Leitung von Philippe Herreweghe. Mitunter bietet die Bachsche Musik eine Art Erlösung, auf die die Hauptperson bis zum Schluss warten muss. Es sind Momente der Ruhe, Kontemplation und Verlangsamung, die das Spiel der Protagonisten kommentieren und ihm zugleich einen tieferen Sinn verleihen.

Accattone und seine Kumpel haben nichts für Arbeit übrig. Sie verachten jeden, der einer geregelten Arbeit nachgeht. Sie schlagen sich stattdessen mit Gaunereien und Diebstählen durch und leben von dem, was ihre Frauen vom Straßenstrich heimbringen.

Auf dem Abstellgleis: Accattone findet den To - als Erlösung.

Auf dem Abstellgleis: Accattone findet den Tod – als Erlösung.

Die Handlung wird episodisch und bruchstückhaft erzählt. Die Personen wechseln wiederholt in die Rolle des Erzählers oder Dramaturgen, die den Fortgang einer Szene in Kurzform erzählen. Der Zuschauer wird damit bewusst auf Distanz gehalten. Er bleibt in der Rolle des Beobachters, ohne die Möglichkeit der Identifikation. Zugleich wird er von der Zwangsläufigkeit der Passion angerührt. Dabei bietet allein schon der Raum überwältigende Bilder.

Johan Simons hat großartige Darsteller eingesetzt. Ihnen gelingt es mit dem spärlichen und sperrigen Text kongenial umzugehen und sie bieten starke Szenen. Es sind vor allem Bewegungen, die in Erinnerung bleiben, weniger die Textpassagen. Die Schauspieler nutzen dafür die Tiefe des Raumes, ihre Bewegungen wirken dabei wie Tanztheater, sie folgen einer Art moderner Choreografie.

Wenn „Accattone“ wie in Zeitlupe am Ende sein Motorrad von ganz hinten nach vorne schiebt und am Ende des Abstellgleises auf dem Gefährt symbolisch für den erlittenen Unfall nach einer Verfolgungsjagd mit der Polizei stirbt, läuft einem ein Schauer über den Rücken. Accattone verendet wie der Schmerzensmann kopfüber und wie gekreuzigt auf seiner Maschine. Eingeleitet wird diese Schlussszene durch die Kantate von Bach „Ich habe genug“. Darin die Zeile des angekündeten Endes: „Ich freue mich auf meinen Tod.“ (Jörg Bockow)

 

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