Westfalen – Was die “Welt in ihrem Innersten zusammenhält” – das ist die Frage der Fragen. Sie wirft der Mensch auf, seit ihm aufgegangen ist, dass er denken und philosophieren kann. Es ist zumindest ein schönes Spiel. Im Letzten ist es allerdings stets aporetisch und bleibt ohne ein befriedigendes Ergebnis. Was bleibt, ist ein Geheimnis. Es taugt für Religionen – und halt für große Kunst. Letzteres konnte man gerade in Duisburg erfahren – bei der Eröffnung der Ruhrtriennale. Spektakulär, irritierend und zugleich doch sehr inspirierend. De Materie ist eine fast enzyklopädisch angelegte Reise durch 500 Jahre Menschheits- und Philosophiegeschichte.
De Materie war der Startschuss für die Ruhrtriennale 2014. Es ist dies die dritte und zugleich letzte Spielzeit des aktuellen (Fest)Spielleiters Heiner Goebbels. Es war ein durchaus schöner und würdiger Auftakt für das diesjährige Programm und zugleich ein weiterer bemerkenswerter Eintrag ins Stammbuch der Ruhrtriennale. Die großen Eröffnungen und Uraufführungen von Heiner Goebbels werden uns in Erinnerung bleiben.
Mit De Materie des niederländischen Komponisten Louis Andriessens hat die Ruhrtriennale ein weiteres exzeptionelles Musiktheaterwerk des 20. Jahrhunderts zur Aufführung gebracht. Es ist ein gedankenreiches, befremdenes und zugleich bewegendes Experiment , das in Dramaturgie, Libretto und musikalischer Form traditionelle Muster der Oper überwindet und ihren Möglichkeitsraum erweitert. De Materie läßt sich folglich in keine der gängen Schubladen stecken. Andriessen rührt in vielen Töpfen. Eine Vielfalt von musikalischen Stilen und Genre wird aufgegriffen, kunstvoll zitiert, ohne dabei bloß eine Art nette Collage zu sein. Andriessen macht etwas ganz Neues daraus. Zu Recht wird er als der bedeutendste Komponist der Neuzeit in den Niederlanden gefeiert.
Wie in vier umfangreichen Kapiteln eines Buches oder Sätzen einer Symphonie reflektiert De Materie die Zusammenhänge von Materie, Geist und Gesellschaft aus wechselnden Perspektiven: die niederländische Unabhängigkeitserklärung von 1581, eine Anleitung zum Schiffsbau von 1690, ein philosophisch-naturwissenschaftlicher Essay von 1651, die religiös-erotische Vision einer Nonne aus dem 13. Jahrhundert, ein kunsthistorisches Manifest, eine private Notiz zu Piet Mondrian, ein Gedicht über den Tod, eine Tagebuchaufzeichnung und eine öffentliche Rede von Marie Curie.
Das klingt angestrengt und sehr intellektuell als sei De Materie eine reine Kopfgeburt. Das aber ist De Materie nicht, denn sowohl die Einzelteile, die Komposition und am Ende auch die Inszenierung erreichen vor allem in den leisen Passagen das Herz. Es gibt in De Materie wundervolle, magische Bilder, poetische Momente und phantastische Einfälle, die einen schier überwältigen. Alleine das Bühnenbild brennt sich mit seinen vier Szenerien ins Gedächtnis ein. Der Reigen reicht von einer verlorenen Zeltstadt, die in einem unwirtlichen Gelände errichtet scheint und die Rätsel aufgibt bis hin zu einer Herde von Schafen, die zögerlich Schritt für Schritt die Bühne erobert und schließlich mit einem beißenden Stallgeruch sogar die Nase anspricht.
In Louis Andriessens Komposition treffen die historischen Quellen in einem großangelegten musikalisch-philosophischen Werk aufeinander: das Private auf das Politische, die Physik auf die Liebe, Einzelschicksal auf Menschheitsgeschichte. Seine Musik ist wie Architektur. Sie pulsiert, schwebt und lässt dem Hörer Raum. Manches geht beim Hören an die Schmerzgrenze, ist mehr Geräusch denn Klang, anderes lässt einen zeitweise beschwingt die Füsse im Rhythmus mitwippen. Aber immer, ehe man sich als Zuhörer in einer Erfahrung eingerichtet hat, springt Louis Andriessen schon weiter, so als wenn er sich mit uns einen kleinen Schabernack erlauben wolle.
Diese erste große Musiktheaterarbeit des niederländischen Komponisten für Solisten, Sprecherinnen, Chor und großes Ensemble ist seit ihrer Uraufführung in Amsterdam 1989 nicht wieder szenisch realisiert worden. Die Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg bietet mit ihrem Charakter den passenden Rahmen für dieses Werk, das Heiner Goebbels mit seinem Team in Szene setzt. Heiner Goebbels bespielt die Tiefe des Raumes und entfaltet darin ein sinnliches Erlebnis. Die Industriekathedrale wird zugleich als ein Luftraum erobert. Das hat man noch nicht gesehen. Ein Geniestück aus dem Reigen der unzähligen, teils ironischen Regieeinfälle: Ferngesteuerte Luftschiffe schweben fast geräuchlos über die Zuschauer und die Bühne hinweg und bilden eine permanente Verstörung. Brecht und die Revolutionäre des Theaters hätten ihre helle Freude daran.
Andriessen gilt als wichtigster lebender Komponist der Niederlande, das Oeuvre des 75-Jährigen umfasst nahezu alle Gattungen. Seine Kompositionen spielen kongenial mit den musikalischen Schöpfungen von Bach über Strawinsky bis hin zu den amerikanischen Minimalisten und kennt keine Berührungsängste vor Jazz-Anleihen, Boogie-Woogie oder sogar Rap. Es ist einmal mehr ein Coup von Heiner Goebbels, dass er dieses lange verborgene Stück wieder ans Licht geholt hat und während der Triennale zu Ohren und zu Augen bringt. Bravo! (Jörg Bockow)
www.ruhrtriennale.de
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