Westfalen – “So wie als ob” nennt sich die aktuelle Ausstellung in der Otmar-Alt-Stiftung in Hamm, in der die diesjährige Stipendiatin der Stiftung ihre aktuellen Arbeiten ausstellt. Diese Arbeiten sind in den vergangenen sechs Monaten, in der fast klösterlichen Enklave der Otmar-Alt-Stiftung entstanden.
Lea Rochus wurde 1983 in Vorwerk geboren. Freie Kunst hat sie an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig studiert. Ihr Studium hat sie erfolgreich mit dem Diplom als Meisterschülerin bei Prof. Walter Dahn abgeschlossen. In Braunschweig entwickelten sich auch neben handwerklich-künstlerischen Fähigkeiten der Blick für Formen und Strukturen mithin das Faible fürs Abstrakte oder besser die Fähigkeit, sich zu beschränken und alles Beiwerk konsequent beiseite zu lassen.
Von August bis Dezember 2008 hat Lea Rochus ein Auslandssemester an der Hochschule für Kunst und Design im norwegischen Bergen verbracht. Ihre Arbeiten hat sie in zahlreichen Ausstellungen und bei verschiedenen Gemeinschaftsausstellungen vorgestellt. Sie war an Ausstellungen in Braunschweig, Berlin, Köln, Hamburg, Goslar, Delmenhorst und sogar schon in Paris beteiligt.
Lea Rochus lebt und arbeitet normalerweise in Hamburg. Von ihrer Kunst zu leben, das ist ihr bislang allerdings noch nicht vergönnt gewesen, wiewohl sie das keineswegs entmutigt, sondern in ihrer klaren und konsequenten Arbeitsweise vermutlich eher bestärkt. Sie malt nicht wohlfeil und gefällig für den Kunst-Markt, sondern sie bleibt sich selbst treu, bleibt bei ihrer Kunst und ihrer Arbeitsweise. Ihren Lebensunterhalt hat sie sich übergangsweise schon als Übersetzerin für Naturfilme und als Kartenabreißerin im altehrwürdigen Thalia-Theater in Hamburg verdient. Und wenn sie jetzt nach ihrer Zeit hier in Hamm wieder nach Hamburg zurückkehrt, wird sie zunächst als Kartenverkäuferin an der Staatsoper in Hamburg arbeiten. Was können wir daraus ableiten? Wer als Künstler arbeiten und anerkannt werden will, der hat offenbar einen ebenso langen wie mühseligen Weg vor sich.
Die Bilder von Lea Rochus erschließen sich einem nicht auf einen ersten oberflächlichen Blick, zumal es ganz offensichtlich auch nicht ihr Ziel ist, einfach nur zu gefallen. Die Bilder von Lea Rochus lassen einen zuerst an ein Rebus also ein Bilderrätsel denken lassen. Eines fällt dabei als Stilmittel auf. Lea Rochus scheint bei einigen ihrer aktuellen Bilder von einem Schattenriss oder einem Scherenschnitt ausgegangen zu sein. Sie interessiert sich dabei weniger für das genaue oder gar naturalistische Abbild, sondern reduziert dieses auf den Umriss, die Struktur oder den Ablauf einer Bewegung, der zergliedert wird in einzelne Momente und Augenblicke.
Es scheint Lea Rochus also um nicht mehr, aber auch nicht weniger zu gehen als um die Idee – die Idee eines Objektes, die Idee einer Bewegung, die Idee einer Emotion. Und an der Stelle können wir eine Brücke schlagen zwischen Philosophie und Kunst. Denn Lea Rochus setzt sich bei ihrer künstlerischen Zugriffsweise vor allem mit der Welt der Ideen auseinander.
Genau betrachtet, sind ihre Bilder, in denen sie beispielsweise die Form einer Schleuder oder Zwille mit der Form eines Schmetterlingsnetzes und der einer Stimmgabel “vergleicht” Sinnsuchen. Und das in einer ganz radikalen Weise. Wenn Lea Rochus sich mit der Form beschäftigt und diese in reinster Abstraktion herausarbeitet – dann arbeitet sie wie ein Botaniker oder Zoologe, der aus einem Präparat Strukturen heraus seziert und diese freilegt. In der Bilderserie, in der einzelne Blütenstände in verschiedenen Blumenvasen abgebildet werden, geht es ihr einerseits um übereinstimmende, zu verallgemeinernde Merkmale und andererseits um die Besonderheit und das Einzigartige. Ihr Vorgehen ist nichts anderes als Erkenntnisphilosophie mit anderen Mitteln.
Ihre Arbeiten lassen einen an das berühmte Höhlengleichnis des griechischen Philosophen Platon denken. In seinem Buch „Politeia“ berichtet der berühmte Platon von seinem großen Lehrer Sokrates.
Sokrates, gewissermaßen der Vater der Ideenlehre und des Idealismus, beschreibt in einer großartigen Metapher die Lebenswelt des Menschen als eine unterirdische, höhlenartige Behausung. In dieser Höhle leben wir Menschen – nur mit einer ganz diffusen Ahnung davon, eher einer Sehnsucht danach, wie ein freies Leben aussehen könnte. Denn „wir“ verbringen unser ganzes Leben – von Geburt an – als Gefangene. Die Menschen sind sitzend an Schenkeln und Nacken so gefesselt und festgekettet, dass sie immer nur nach vorn auf die Wand der Höhle blicken und ihre Köpfe nicht drehen können.
Den Ausgang der Höhle, der sich hinter ihren Rücken befindet, können sie nie erblicken, ja sie wissen nicht einmal etwas von seiner Existenz. Auch sich selbst und die anderen Gefangenen können sie nicht sehen; das einzige, was sie je zu Gesicht bekommen, ist die Wand vor ihnen, die wie eine große Projektionsfläche funktioniert.
Erhellt wird die Höhle von einem großen, fernen Feuer, das oben auf der Erde brennt und dessen Licht durch den Gang hineinscheint. Die Gefangenen sehen nur das Licht, das die Wand beleuchtet, nicht aber dessen Quelle. Aber auf der Wand sehen sie ihre eigenen Schattenrisse und die Schemen der Dinge, die zwischen Feuer und ihnen vorbeigetragen werden.
Auf der Erdoberfläche befindet sich zwischen dem Höhleneingang und dem Feuer eine kleine Mauer, die nicht so hoch ist, dass sie das Licht des Feuers abschirmt. Längs der Mauer werden unterschiedliche Gegenstände hin und her getragen. Diese Gegenstände ragen über die Mauer hinaus.
Da die bewegten Gegenstände auf die Höhlenwand, der die Gefangenen zugewendet sind, Schatten werfen, können die Höhlenbewohner – also wir – die bewegten Formen schemenhaft wahrnehmen. Von den Trägern ahnen sie freilich nichts. Das, was sich auf der Wand abspielt, als die Projektion ist für sie die gesamte Wirklichkeit. Die Bilder sind schlechthin wahr und werden nicht in Frage gestellt.
In den über 2.000 Jahren zurückliegenden Jahren ist diese Geschichte vielfach interpretiert und gedeutet worden. Erkenntnistheoretisch zugespitzt soll sie verdeutlichen, dass wir als Menschen die Dinge, wie sie tatsächlich sind, niemals werden erkennen können. Wir sehen die Dinge nur, wie sie uns erscheinen. Wir sind zurückgeworfen auf die eingeschränkten Möglichkeiten unserer Wahrnehmung. Umso mehr motiviert diese ernüchternde Erkenntnis seit jeher die Herausforderung, den wahren Dingen durch andere Herangehensweisen näher zu kommen. Durch Philosophie etwa oder durch Traum und Fantasie – und nicht zuletzt durch künstlerische Annäherungen.
Die Zeichnungen, die Lea Rochus mal mit Tusche, mal mit Buntstiften und Aquarellfarben angelegt hat, gehen genau diesen Weg. Figuren und Formen begegnen sich da in Bildräumen, von denen große Flächen frei bleiben. Nichts soll den Betrachter ablenken. So kann sich das Auge auf das Wesentliche konzentrieren – beispielsweise auf die Hände, die als Motiv auftauchen, die Vase oder den gekrümmte Blumenstengel. Und es sind dies Anstöße für unsere Fantasie.
Der große Maler Paul Klee hat einmal gesagt: “Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht (das Unsichtbare) sichtbar.” Es sind keine Abbildungen realer Situationen, die Lea Rochus interessieren, es sind mehr so etwas wie die inneren Bilder, Zustände, die auch einem Traum entstammen könnten. Da verwundert es nicht, wenn hier und da der Eindruck einer verkehrten Welt entsteht und ganz absurde Szenarien auftauchen.
Da umarmt eine gesichtslose und gleichermaßen geschlechtslose Person innig und so als wolle sie Halt finden, einen Stock, Stab oder einen Buntstift, der Teil eines rätselhaften Objektes ist.
Der Künstlerin geht es offenbar nur um diese Umarmung. Diese könnte vieles bedeuten. Sie kann beispielsweise Ausdruck der Zuneigung und Liebe, der Freude oder aber der Hilflosigkeit sein. Doch dieser Bedeutungs-Zusammenhang entsteht nur im Kopf des jeweiligen Betrachters. Im Bild selber ist diese Bedeutung nicht zu finden. Lea Rochus unternimmt mit dem Betrachter ein interessantes Experiment. Sie stellt mit ihren Bildern immer wieder den Zusammenhang von Wahrnehmung und Sinnzuweisung in Frage. (Jörg Bockow)
www.learochus.de Otmar-Alt-Stiftung / Obere Rothe 7 / 59071 Hamm www.otmar-alt.de
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