Passion – Letzter Tanzabend von Hans Henning Paar

Ein würdigeres Abschiedsgeschenk als den Tanzabend „Passion“ hätte er wohl kaum machen können. Seinem Ensemble, seinem Theater und seinem Publikum, die er über zehn Jahre mit wundervollen Choreographien inspirieren und beglücken konnte. Hans Henning Paar war für das Theater Münster ein Glücksfall, für das Ensemble sowieso. Seine Fußstapfen, die er hinterlässt sind verdammt groß.

Passion – Letzter Tanzabend von Hans Henning Paar

Tanzabend “Passion” im Theater Münster – eine Choreographie von Hans Henning Paar – Foto Oliver Berg

Zu seiner letzten Choreografie für das Tanztheater Münster „Passion“ hat Chefchoreograph Hans Henning Paar Johann Sebastian Bachs „Johannes-Passion“ von 1724 gewählt. Eine anspruchsvolle Herausforderung, die er mit Bravour gemeistert hat. Die Premiere des Tanzabends war am 25. Februar. Im März gibt es weitere Termine. „Passion“ ist auf großer Bühne zu sehen. Das sollte man sich keinesfalls entgehen lassen.

Tanzabend “Passion” im Theater Münster – eine Choreographie von Hans Henning Paar – Foto Oliver Berg

Hans Henning Paar bringt das oratorische Werk von Johann Sebastian Bach für vierstimmigen Chor, Gesangssolisten und Orchester als Kombination aus Tanz, abstrakter Szene, Raum und Licht auf die Bühne. Da wirken sechs Gesangssolisten des Musiktheaters, 15 Tänzerinnen und Tänzer und der 25-köpfige Chor mit der kleinen Besetzung des Orchesters kongenial zusammen. Die spartenübergreifende Produktion zeigt eindrucksvoll, was an diesem Haus alles möglich ist. Zugleich wirft sie auch bereits ein Schlaglicht auf das, was unter der neuen Generalintendantin Katharina Kost-Tolmein fortgesetzt werden soll: Das Zusammenspiel der verschiedenen Sparten.

Enrique Sáez Martínez im Tanzabend “Passion” im Theater Münster – eine Choreographie von Hans Henning Paar – Foto Oliver Berg

Bei dem spartenübergreifenden Konzept hatte Hans Henning Paar ganz klar die Zügel in der Hand. Die „Passion“ war sein Abend: Über die Bühne ging ein Gesamtkunstwerk, bei dem sein Ensemble und alle Tänzer in ihren einzelnen Performances offenbar auch ihm zu Ehren und ihm zum Dank alles gegeben haben. Die Vielseitigkeit und Virtuosität waren beeindruckend.

Passion – Letzter Tanzabend von Hans Henning Paar

Marieke Engelhardt im Tanzabend “Passion” im Theater Münster – eine Choreographie von Hans Henning Paar – Foto Oliver Berg

Hans Henning Paar verantwortete diesmal auch das Bühnenbild, das sich so spartanisch wie abstrakt zu großartigen Bildern fügte. Ein monströser schwebender Balken – zuerst als das göttliche Licht – senkt sich in Zeitlupe auf die Bühne, wo er höchst beweglich und variabel mal Grenzstein, mal Grabstätte, mal Gericht und mal Tafel für das Abendmahl sein durfte. Der Schwebebalken ist tatsächlich eine unglaubliche Erfindung, um die herum und über die die Choreographie ihren Zauber entfalten kann. Nur noch ein paar Hocker, mehr an Requisiten braucht es nicht.

Tanzabend “Passion” im Theater Münster – eine Choreographie von Hans Henning Paar – Foto Oliver Berg

Bereits in der Eingangsszene von „Passion“ wird in einer wilden, fast chaotischen Choreographie alles gezeigt, wozu diese Tänzerinnen und Tänzer fähig sind. Teilweise akrobatische Bewegungen, Sprünge und scheinbar unmögliche Verrenkungen und Drehungen, die bis ins Detail zu emotionalen Ausdrücken choreographiert sind. Die 15 Tänzerinnen und Tänzer verkörpern in diesem Auftakt das Volk in einem ungeordneten Aufruhr. Wie auf einer Probenbühne wirbeln die Tänzerinnen und Tänzer scheinbar wahllos durcheinander als wollten sie wie bei einem Casting alle möglichen Ausdrücke anbieten, ihre Fähigkeiten Gefühle zu verkörpern unter Beweis stellen und sich zugleich warmlaufen. Überhaupt bietet der Abend zahlreiche großartige Ensemblebilder, Gruppenchoreographien und überragende Einzelauftritte. Herausragend die Performances von María Bayarri Pérez, Raffaele Scicchitano und Marieke Engelhardt.

Passion – Letzter Tanzabend von Hans Henning Paar

Tanzabend “Passion” im Theater Münster – eine Choreographie von Hans Henning Paar – Foto Oliver Berg

Die Johannes-Passion ist die früheste der heute bekannten Passionsmusiken Johann Sebastian Bachs (1685–1750). Uraufgeführt wurde das Werk am Karfreitag, den 7. April 1724, in der Leipziger Nikolaikirche. Bach überarbeitete und veränderte das Werk mehrmals für spätere Aufführungen, seine letzte Fassung aus dem Jahr 1749 weist jedoch enge Bezüge zur ersten Version auf. Eingerahmt von zwei großen Chorsätzen entfaltet Bach die Passionsgeschichte von der Gefangennahme und Kreuzigung Jesu Christi und zeichnet ihre Stationen und Emotionen musikalisch nach.

Das Textbuch basiert auf den Kapiteln 18 und 19 des Johannes-Evangeliums ergänzt durch Choräle und frei hinzugedichtete Texte; im Zentrum steht die Konfrontation von Jesus und Pilatus.

Raffaele Scicchitano im Tanzabend “Passion” im Theater Münster – eine Choreographie von Hans Henning Paar – Foto Oliver Berg

Bachs bildhafte und expressive musikalische Umsetzung des Textes, seine kompositorische Vielfalt und gewagte Chromatik, lässt die Handlung geradezu physisch spürbar werden. Die Dramatik entwickelt sich durch wechselnde Perspektiven der Vortragenden: die Rezitative des Erzählers und die agierenden Ensembles der Turba-Chöre treiben die Handlung voran, während Arien und Choräle das Gehörte reflektieren und den Blick nach innen wenden.

Die Choreographie, die Sängerinnen und Sänger, der Chor, der für das Publikum nicht sichtbar hinter der Bühne singt und nicht zuletzt die kleine Besetzung des Orchesters in einer rauhen fast urspünglichen Aufführungspraxis bilden eine stimmige Einheit als wäre sie so ursprünglich von Bach bereits geplant worden. Gemeinsam entfalten sie ein hinreißendes und höchst emotionales Klanggemälde, das aus den Teilen zusammenschmilz. Nichts und niemand ist in die zweite Rolle verbannt, alle dienen sie dem herausragenden Gesamteindruck.

Passion – Letzter Tanzabend von Hans Henning Paar

Tanzabend “Passion” im Theater Münster – eine Choreographie von Hans Henning Paar – Foto Oliver Berg

In „Passion“ steht die Passions-Geschichte im Mittelpunkt, beginnend mit der Verurteilung und Gefangennahme Jesu bis hin zur Kreuzigung. Die Tänzer übernehmen verschiedene Rollen. Die Szenen sind nicht chronologisch, sondern eher assoziativ miteinander verbunden. So gibt es niemanden, der der Figur Jesu zugeordnet werden kann. Die Rollen sind bewusst wechselnd und verwischt. Paar sieht die „Passion“ als Leidensgeschichte der gesamten Menschheit. So werden das Leiden, der Schmerz und schließlich der Tod von allen Tänzerinnen und Tänzern verkörpert – so eindrucksvoll, dass man als Zuschauer von Emotionen überschüttet wird. Selten hat man das Leiden in so vielen Ausdrucksformen gesehen – viele der einzelnen Auftritte erinnern einen an die emotionalen Gemälde voller Schmerz und Leiden eines Caravaggio oder Leonardo da Vinci.

Passion – Letzter Tanzabend von Hans Henning Paar

María Bayarri Pérez im Tanzabend “Passion” im Theater Münster – eine Choreographie von Hans Henning Paar – Foto Oliver Berg

Jesus, der Schmerzensmann selber erscheint auf der Bühne wie ein irritierender Kontrapunkt. Nur langsam fällt er dem Publikum überhaupt ins Auge,  gewinnt dann aber zunehmend an Bedeutung. Ein nur mit einem Lendenschurz bekleidetes Alter Ego (Tsutomu Ozeki) bewegt sich ab der Pause in der unglaublichen, meditativen Zeitlupe eines Zen-Meisters von der Hinterbühne bis auf die Vorderbühne und schließlich ins volle Rampenlicht. Der Kontrast zur Choreographie könnte nicht größer und irritierender sein: Als Zuschauer sind wir direkt angesprochen wie wir uns in unserer Gegenwart und in unserem Leben zur Leidensgeschichte Jesu und seiner hoffnungsvollen Botschaft verhalten wollen. Es ist ein Schlussbild, das vor den aktuellen Ereignissen eine ganz neue Bedeutung gewinnt. (Jörg Bockow)

Choreografie & Bühne: Hans Henning Paar

Musikalische Leitung: Thorsten Schmid-Kapfenburg

Kostüme: Bernhard Niechotz

Choreinstudierung: Anton Tremmel

Dramaturgie: Esther von der Fuhr

Mitwirkende:

Eva Bauchmüller (Sopran), Dorothea Spilger (Alt), Stefan Sbonnik (Tenor), Stephan Klemm (Bass), Raphael Wittmer (Evangelist), Gregor Dalal (Jesus) sowie der Opernchor des Theaters Münster und das Sinfonieorchester Münster

Das Ensemble des Tanztheater Münster:

María Bayarri Pérez, Chiara Bonciani, Enzo Convert, Marieke Engelhardt, Eleonora Fabrizi, Ilario Frigione, Fátima López García, Matteo Mersi, Tsutomu Ozeki, Tarah Malaika Pfeiffer, Adrián Plá Cerdán, Enrique Sáez Martínez, Raffaele Scicchitano, Charla Tuncdoruk, Leander Veizi

 

Weitere Vorstellungen von “Passion” im März: 

Donnerstag, 3. März, 19.30 Uhr, Großes Haus

Freitag, 4. März, 19.30 Uhr, Großes Haus

Freitag, 18. März, 19.30 Uhr, Großes Haus

Dienstag, 22. März, 19.30 Uhr, Großes Haus

Samstag, 26. März, 19.30 Uhr, Großes Haus

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