Trinkhallen – Treffpunkte und Kulturerbe

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Bochum. Trinkhalle, Bude, Büdchen, Kiosk – so vielfältig wie die Bezeichnungen sind auch die Formen der Trinkhallen im Revier. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe widmet diesen kleinen Läden, die im Ruhrgebiet in ihrer 100-jährigen Geschichte eine besondere Ausprägung und Bedeutung erlangt haben, eine Fotoausstellung. Sie sind nicht nur oft pittoreske Verkaufsstellen, sondern vor allem auch Kommunikationsorte. Das zeigt die Ausstellung “Trinkhallen – Treffpunkte im Revier” im LWL-Industriemuseum Zeche Hannover in Bochum mit einer Auswahl von insgesamt 50 Fotos aus Serien von Reinaldo Coddou H. und Brigitte Kraemer. Die Ausstellung findet bis zum 16. August im Malakowturm des ehemaligen Bergwerks in Bochum statt.

Trinkhallen

Trinkhalle als “Lückenfüller”: Den Kiosk Müller hat Reinaldo Couddou H. 2017 in Bochum-Wattenscheid entdeckt, Foto Reinaldo Coddou H.

Die Ausstellung musste wegen der Museumsschließungen aufgrund des Coronavirus verschoben werden und kommt nun zur rechten Zeit: Erst vor zwei Wochen wurde die Trinkhallenkultur zusammen mit dem Steigerlied ins Landesinventar des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Beide stünden für Solidarität und sozialen Zusammenhalt und damit für eine ganz besondere Facette der kulturellen Ausdrucksformen in Nordrhein-Westfalen, begründete NRW-Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen die Wahl.

Antragstellerin für die Anerkennung der Trinkhallenkultur als immaterielles Kulturerbe war die Aachener Architektin Marie Enders, die in ihrer Abschlussarbeit die Trinkhallenkultur eingehend untersuchte. Die Präsentation ihrer Ergebnisse ist in der Ausstellung des LWL-Industriemuseums zu sehen.

Die Fotografen
Der in Ostwestfalen aufgewachsene und heute in Berlin lebende Fotograf Reinaldo Coddou H. hat zum ersten Tag der Trinkhallen im Ruhrgebiet 2016 die Büdchen im Revier in den Blick genommen und seitdem mehrere hundert Trinkhallen fotografiert. “Die Buden sind so vielfältig wie die Menschen im Revier. Das zeigt sich auch in ihrer Erscheinung. Ob elegant, grob gestaltet, herausgeputzt oder in die Jahre gekommen – für die Menschen im Ruhrgebiet sind Trinkhallen wichtige Treffpunkte und oft auch Orte der Leidenschaft”, weiß der Fotograf Coddou H.

Die Herner Fotografin Brigitte Kraemer hatte in den Jahren 2006 bis 2008 im Auftrag des LWL mit ihrer Kamera das Ruhrgebiet durchstreift und Kioske und Trinkhallen in den Focus genommen. Im Mittelpunkt ihrer Bilder stehen die Menschen in und an der Bude. Die Fotos zeigen Kinder, die ihr Taschengeld in Süßigkeiten umsetzen, Jugendliche, die den Kiosk als Treffpunkt nutzen, oder Frauen und Männer aus der Nachbarschaft, die an der Trinkhalle ihr Schwätzchen halten. Kraemers Bilder sind gesellschaftskritische, sozial engagierte und humorvolle Studien des ganz gewöhnlichen Lebens.

Geschichte der Trinkhallen im Revier

Menschen in und an Trinkhallen faszinieren die Herner Fotografin Brigitte Kraemer. Hier eine Aufnahme, die sie 2007 an der Bude am Bahnhof Essen-Altenessen entstand, Foto LWL/Brigitte Kraemer

Die Trinkhallen blicken im Ruhrgebiet auf eine über 100-jährige Geschichte zurück. “Seit den 1870er Jahren haben sich die Buden – ursprünglich als Trinkhallen und Seltersbuden für den Verkauf von industriell abgefülltem Mineralwasser gedacht – rasch im Revier verbreitet”, erklärt LWL-Museumsleiter Dietmar Osses. Während sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts oft als Existenssicherung für Kriegsversehrte und Bergmannswitwen dienten, erweiterten die Trinkhallen in den 1960er Jahren ihre Warenpalette und entwickelten sich zu kleinen Kaufläden mit persönlichem Service und besonderen Öffnungszeiten.

Mit dem Rückzug der Großindustrie aus dem Ruhrgebiet haben die ehemals an den Werkstoren gelegenen Kioske ihre Laufkundschaft verloren. Osses: “Die Trinkhallen in den Werkssiedlungen konnten sich jedoch oft behaupten: Nachdem viele traditionelle Lebensmittelgeschäfte zentralen Supermarktketten weichen mussten, füllten sie mit ihrem Angebot an Alltagsprodukten diese Versorgungslücke vor Ort aus.”

Nach der Flexibilisierung der Ladenöffnungszeiten und Ausstattung von Tankstellen mit supermarktähnlichen Shops geraten die Buden jedoch zunehmend unter Konkurrenzdruck. Während die alt eingesessenen Kioske oft auf das besondere Einkaufserlebnis setzen, versuchen andere, mit innovativen Konzepten wie dem Angebot von internationalen Telefongelegenheiten und Internetterminals neue Kundenkreise zu erreichen. Heute wird ein wachsender Teil der Trinkhallen als Kleinstbetrieb von Zuwanderern betrieben, die mit dem Kiosk den Schritt in die unternehmerische Selbständigkeit wagen.
In Zeiten des Corona-Virus sind die kleinsten Trinkhallen die Gewinner: Nur die Buden mit außer Haus Verkauf durchs Fenster konnten in der ersten Phase der Kontaktsperre geöffnet bleiben. Sie blieben Treffpunkte zum Austausch und Tratschen – aber nur für zwei Personen.

Hinweis: Der Zugang zum Malakowturm ist nicht barrierefrei und wegen der Corona-Pandemie auf wenige Personen beschränkt. Daher kann es zu Wartezeiten kommen.

Trinkhallen – Treffpunkte im Revier
Fotografien von Reinaldo Coddou H. und Brigitte Kraemer auf der Zeche Hannover
6.5. bis 16.8.2020
LWL-Industriemuseum Zeche Hannover
Öffnungszeiten Mi-Sa 14-18 Uhr, So 11-18 Uhr

www.lwl.org

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