Lebenslüge in Recklinghausen: So geht Theater! Die Ruhrfestspiele holen „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ aus dem Hamburger Schauspielhaus nach Recklinghausen. Es ist einer der vielen klugen Züge des neuen Intendanten Olaf Kröck, in diesem Jahr trotz eines stark reduzierten Budgets ein wundervolles Programm zu präsentieren. Allerdings gab es “Wer hat Angst vor Virginia Woolf” nur an zwei Abenden. Sie waren innerhalb kurzer Zeit komplett ausverkauft. Die Nachfrage nach Karten war so groß, dass man zwei, vielleicht drei zusätzliche Vorstellungen ohne Schwierigkeiten hätte füllen können. Entsprechend hoch waren die Erwartungen an den beiden Abenden.
Die Inszenierung von Karin Beier wird seit Anfang des Jahres an der Waterkant gefeiert. Die Qualität der Produktion hat sich mittlerweile in der deutschen Theaterszene herumgesprochen. Nun reißen Devid Striesow und Maria Schrader den Ruhrpott aus den Sitzen. Mit frenetischem Applaus, Standing Ovations und vielen Bravorufe wird die überragende Schauspielerleistung auf den Ruhrfestspielen in Recklinghausen gefeiert. Ein hinreißendes Gastspiel.
Die über zwei Stunden unter dem Einfluss mehrerer Flaschen Bourbon zerlegte Ehe zwischen Martha und George ist Schauspielertheater wie man es sich nur träumen kann. Regisseurin und Intendantin Karin Beier konzentriert sich ganz auf das Zusammentreffen der beiden Protagonisten, lässt sie vom ersten Moment an alle Register ziehen. Sie verzichtet ganz auf schmückendes Beiwerk, setzt auf Gesten und Körpersprache. Im Hintergrund der Bühne hinter mehreren Podesten ragt jener Baum gen Himmel, vor den der über Jahre imaginierte Sohn mit seinem Auto am Ende fahren und ums Leben kommen wird. Es ist das bitter-böse Ende jener Lebenslüge, die Martha und George zusammengehalten hat. Und vielleicht die Chance für einen Neubeginn.
Maria Schrader und Devid Striesow zelebrieren die Eheschlacht als einen Vulkanausbruch. In nur einer Nacht kommt es unten den Augen ihrer beiden Gäste Nick und Honey zum karthetischen Zusammenprall, in der alles auf den Tisch kommt, am Ende auch der über 20 Jahre versagte Kinderwunsch von Martha.
Es ist eine Höllenritt wie man ihn nur selten im Theater zu sehen bekommt. Träume und Illusionen, Wünsche, Hoffnung und Leidenschaften zerstieben unter einem grandiosen Funkenflug. Die Wortgefechte zwischen den Beiden sind tief verletzend, entlarvend und zugleich immer wieder voller Witz und Poesie. Mit jedem Glas Whiskey mehr werden Anschuldigungen und Angriffe zwischen Martha und George lauter und heftiger. Es wird geschrieen, gezetert, getobt, gebrüllt, geflucht, sogar geschossen und alles zertrümmert, was unter den Regeln des Anstand und in einer großen Lebenslüge gefangen bislang mühevoll zusammengehalten worden war. Es kommt sogar zu heftigen Handgreiflichkeiten und Rangeleien zwischen Martha und George. Keiner vergibt dem anderen etwas. Die Psychologie der beiden Hauptpersonen wird in allen Dimensionen ausgemessen. Die unfreiwilligen Zuschauer der großen Lebenslüge werden eingespannt und kommen förmlich unter die Räder.
„Zwar gibt es allerlei Wortgefechte, Beleidigungen, Tiefschläge, die ganze Bandbreite bürgerlichen Ehelebens – die faszinierende Kunst der beiden zunehmend alkoholisierten Protagonisten scheint aber gerade darin zu bestehen, Entwurf und Geschichte ihrer komplexen Beziehung ständig zu überarbeiten. Was dabei Fiktion ist und was Wirklichkeit, können nicht nur die beiden ahnungslosen Gäste Nick und Honey nicht entscheiden, auch die Zuschauer werden darüber im Unklaren gelassen. Konnte man in früheren Zeiten von einer öffentlichen Fassade und den dahinter lauernden Lebenslügen der Eheleute sprechen, verschwimmt hier diese Art Zuordnung völlig: Martha und George sind ein gut eingespieltes Team in einer so kreativen wie vitalen Ehe-Performance. Und ihre eigentlichen Feinde sind möglicherweise die Langeweile einer spießigen Provinz und die Angst vor dem Sterben.“ (Programmheft)
Es ist ein herrliches Vergnügen dieser wohlbekannten Ehekrise zuzuschauen und sich den Schauer über den Rücken rieseln zu lassen. Der ein oder andere wird sich sicherlich insgeheim beruhigend sagen, dass es bei sich zu Hause noch längst nicht so schlimm ist. Ablauf und Ende des Dramas sind wohlbekannt. „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ gehört seit Jahrzehnten zum Repertoire vieler Bühnen. Was Maria Schrader und Devid Striesow indes aus dem Stück machen, ist eine Sensation. Die Wortgefechte werden mit einer ungeheuren physischen Präsenz ausgelebt. Jede Geste stimmt, jede Bewegung der Körpersprache ist glaubwürdig und entspricht der jeweiligen Seelenverfassung unter dem Einfluss unzähliger Drinks und mehrerer Flaschen Bourbons. Nach einem solchen Abend mag man sich durchaus zufrieden noch ein Glas gönnen. (Jörg Bockow)
Speak Your Mind