Borchert-Theater: Das Ende des Schweigens

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Klassiker sind verstaubt und interessieren doch nur Deutschlehrer?! Von wegen! Aktuell im Wolfgang Borchert Theater in Münster zu sehen: „Die Marquise von O.“ ein Schauspiel nach der Novelle von Heinrich von Kleist. Tanja Weidner hat die Schauspielfassung geschrieben und auch die Regie geführt. Aktueller kann ein Klassiker kaum sein.

Rosana Cleve in der Titelrolle des Ein-Personen-Stücks “Die Marquise von O.” – Foto: Klaus Lefebvre

Alleine die Zuspitzung auf nur eine Schauspielerin – großartig gespielt von Ensemblemitglied Rosana Cleve –, die die Marquise verkörpert, birgt bereits Zündstoff. Denn die Geschichte wird radikal und überaus schmerzhaft aus der Perspektive der Marquise erzählt. Ihre erwachende Erkenntnis verbunden mit der Wut und ihrem Zorn gegenüber dem Mann, der sich als ihr Retter geriert und sie doch geschändet hat, stehen im Mittelpunkt.

Wut und Verzweiflung: Rosana Cleve in der Titelrolle des Ein-Personen-Stücks “Die Marquise von O.” – Foto: Klaus Lefebvre

Das Spiel von Rosana Cleve ist physisch und mit vollem Körpereinsatz. Man nimmt ihr den unendlichen Schmerz, Verzweiflung aber eben auch die Wut ab. Die Marquise ist nicht bereit, ihre Vergewaltigung still zu erdulden. Ihr erwachsen Mut und die notwendige Kraft, sich nachträglich zur Wehr zu setzen und damit auch ihren Seelenfrieden zu finden. Autorin Tanja Weidner sagt über den Kunstgriff, die Geschichte aus nur einer Rolle zu erzählen: „Natürlich ist ein Effekt einer Theaterfassung für nur eine Schauspielerin, dass sich diese starke und mutige junge Frau ihre Geschichte auch irgendwie zurückerobert, die über 200 Jahre lang von einer männlichen Perspektive erzählt wurde.“

Als die Marquise ein Kind erwartet, wird sie von der Familie verstoßen und in der Gesellschaft geächtet, so als wenn sie selbst an ihrem Unglück schuld sei. Anlässlich der #metoo-Debatte ist diese Auseinandersetzung aktueller denn je. Denn erst jetzt wird das Ausmaß der Gewalt gegenüber von Frauen auch in unserer Gesellschaft immer deutlicher. Was früher und bis vor kurzem noch aus falscher Scham im Verborgenen gehalten wurde, weil man den betroffenen Frauen nicht geglaubt oder ihnen sogar eine Mitschuld unterstellt hat, wird immer häufiger angeprangert und dann auch juristisch geahndet. Die Marquise von O. ist gewissermaßen eine Vorfahrin jener Frauen, die sich öffentlich zu ihren Gewalterfahrungen äußern und damit ein längst überfälliges Umdenken erzwingen. Die Zeit des Schweigens hat ein Ende!

Die Schande: Rosana Cleve in der Titelrolle des Ein-Personen-Stücks “Die Marquise von O.” – Foto: Klaus Lefebvre

Die Geschichte der Marquise von O. beginnt im Krieg. Wie immer im Krieg wird gemordet, geplündert, vergewaltigt. Wie ein Engel erscheint in diesem Chaos ein russischer Offizier, der die Marquise in der Nacht der feindlichen Übernahme vor der sexuellen Gewalt seiner Soldaten schützt. Dieses verhinderte Kriegsverbrechen hat Folgen. Am nächsten Morgen werden die fünf Soldaten hingerichtet und der gefeierte Retter verabschiedet sich.

Wie soll sie ihrem Retter von einst jemals wieder vertrauen können? Rosana Cleve in der Titelrolle des Ein-Personen-Stücks “Die Marquise von O.” – Foto: Klaus Lefebvre

Wochen später stellt die Gerettete fest, dass sie schwanger ist. An eine Zeugung kann sie sich nicht erinnern. Für ihren Vater ist das die boshafte Lüge zur Verschleierung sexueller Eskapaden, die Mutter weiß nicht, was sie denken soll. Anfänglich möchte die Marquise an eine unbefleckte Empfängnis glauben, zu ungeheuerlich ist ihr die Vorstellung Opfer einer Vergewaltigung geworden zu sein. Doch als ein Arzt und eine Hebamme ihr bestätigen, was letztlich nicht mehr zu leugnen ist, fügt sie sich in ihr Schicksal und zieht mit ihren Kindern in ein nahes Dorf.

Ob die Zeit jemals ihre Wunden wird heilen können? Rosana Cleve in der Titelrolle des Ein-Personen-Stücks “Die Marquise von O.” – Foto: Klaus Lefebvre

Die Marquise entschließt sich zu einem radikalen Schritt. Per Anzeige sucht sie den Vater des Kindes. Sie führt eine radikale Aufklärungskampagne gegen sich selbst, und es zeigt sich eine Welt, in der es keine Gewissheiten gibt, nicht einmal die Gewissheit, dass eine Frau über sich selbst sagen kann, ob sie schwanger ist oder nicht.

Der einstige Retter, der von ihr damals noch als „Engel“ gesehen wurde, bekennt sich zu seiner Schandtat. Er will die Marquise heiraten und sein Verhalten so vergessen lassen. Auch kann sie nur so wieder in den Schoß der Familie und damit auch in die Gesellschaft aufgenommen werden. Die Marquise willigt in die Hochzeit ein, ohne ihm sein Verbrechen vergeben zu können. Er hat der Familie fern zu bleiben. Die Wahrheit ist für sie so niederschmetternd und ihre Verletzung so abgrundtief, dass es lange Zeit bedarf, um erst nach einem zweiten Ja-Wort ihre Erfahrung vielleicht vergessen zu lassen und ihm möglicherweise gar zu vergeben. Auf der Bühne beharrt sie bis zum Schluss trotzig und letztlich auch unversöhnt, dass dies ihre Geschichte sei. (Jörg Bockow)

Wolfgang Borchert Theater / Am Mittelhafen 10 / 48155 Münster

Ticket-Telefon 0251-40019

www.wolfgang-borchert-theater.de

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