Im Herbst ist die Zeit, in der noch warmen Sonne melancholischen Gedanken nachzuhängen. Besonders gut geht das unter den dicken Bäumen eines alten Friedhofs. Westfalium hat die Gräber bekannter und weniger bekannter Westfalen besucht.
Er war lange der reichste Mann Deutschlands: Friedrich Flick hatte seine Karriere als Angestellter eines mittelständischen Hüttenwerks in Siegen begonnen. In der Weimarer Republik und in der Nazizeit baute er einen Schwerindustrie-Konzern auf, der einen Großteil der deutschen Stahl- und Kohlebergwerke vereinte. Auch durch die Arisierung jüdischen Eigentums vergrößerte Flick seine Unternehmensgruppe, die zu den wichtigsten Waffenlieferanten Adolf Hitlers gehörte. Nach Kriegsende verurteilten die Alliierten Friedrich Flick als Kriegsverbrecher, der größere Teil seines Industrie-Imperiums wurde enteignet. Mit bemerkenswerter Energie, unerhörtem Geschick und viel geliehenem Geld ging der der Unternehmer im Wirtschaftswunder erneut ans Werk, und als er 1972 starb, war der Flick-Konzern wieder eines der größten Unternehmen des Landes. Auf dem Friedhof in Kreuztal – nur wenige Kilometer von seinem Elternhaus entfernt – ist Friedrich Flick begraben. Die Mitte seines Grabsteins erinnert an seinen Sohn Rudolf, der als Leutnant der Wehrmacht wenige Tage nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion in der Ukraine fiel.
Eine gute Autostunde weiter nördlich, im heute zu Sundern gehörenden Dorf Enkhausen, hat der zweite Präsident der Bundesrepublik Deutschland, Heinrich Lübke seine letzte Ruhestätte, stattlich, aber nicht protzig, westfälisch gediegen und mit der Aura von Wohlstand und Mäßigung, die Westdeutschland nach dem Krieg so sympathisch macht. Dasselbe kann man über das Grab des Computerpioniers Heinz Nixdorf auf dem Waldfriedhof in Paderborn sagen. Der 1925 in Paderborn geborene Nixdorf studierte Physik und arbeitete für den RWE-Konzern in Essen, wo er 1952 mit Startkapital von RWE das Heinz Nixdorf Labor für Impulstechnik gründete. 1959 verlegte er den Firmensitz in seine Heimatstadt Paderborn unter dem Namen „Nixdorf Computer“. In den 1980ern gehörte die Firma zu den größten Unternehmen Deutschlands. 1986 starb Heinz Nixdorf auf der Computermesse CeBIT in Hannover an einem Herzinfarkt. Seine Nachfolger schafften es nicht, das Unternehmen an die rasante Entwicklung im Computermarkt anzupassen. 1990 wurde Nixdorf Computer an die Siemens AG verkauft, der Markenname ist mittlerweile fast völlig verschwunden. Trotzdem hat Paderborn Heinz Nixdorf viel zu verdanken: So ist die Entwicklung des Flughafens Lippstadt-Paderborn eng mit dem Namen des ostwestfälischen Computerpioniers verbunden.
Zwischen alten Bäumen, üppigem Rhododendron-, Lebensbaum- und Scheinzypresse findet der Besucher auf dem Johannisfriedhof in Bielefeld das stattliche Gründerzeitgrab des Pädagogen Dr. Georg Ernst Hinzpeter. Der 1827 geborene Sohn eines Bielefelder Gymnasiallehrers studierte Philosophie und klassische Philologie und promovierte in beiden Fächern. Danach arbeitete er als Hauslehrer in adeligen Familien und als Lehrer am Ratsgymnasium in Bielefeld. 1866 engagierte ihn Kronprinzessin Victoria von Preußen als Erzieher ihres siebenjährigen Sohnes Wilhelm, des späteren Kaisers Wilhelm II. Einige Historiker sehen in Hinzpeters spartanischer, calvinistisch geprägter Erziehung eine Ursache der unausgeglichenen Psyche des späteren Kaisers. Der erwachsene Wilhelm hatte seinen Erzieher aber offensichtlich in guter Erinnerung: 1888 wurde Hinzpeter Berater des Kaisers und Geheimer Oberregierungsrat, ab 1904 war er Mitglied des Preußischen Herrenhauses. Bei einem Besuch Bielefelds im Jahr 1900 frühstückte Wilhelm II. bei seinem alten Lehrer und bei der Beerdigung Hinzpeters reiste der Monarch nach Bielefeld, um den Trauerzug anzuführen. Nicht weit entfernt von Hinzpeter liegen die Familienmitglieder der Puddingpulver-Dynastie Oetker begraben.
Der Gründer der Bielefelder Dürkopp-Werke, Nicolaus Dürkopp, fand auf dem Obernbergfriedhof in Bad Salzuflen seine letzte Ruhestätte. Der 1842 geborene Sohn eines Herforder Eisenwarenhändlers machte nach der Volksschule eine Schlosserlehre in Detmold, ging auf Wanderschaft und arbeitete danach für den Uhrmachermeister Böckelmann in Bielefeld. In dieser Zeit baute er seine erste Nähmaschine. 1871 gründete Dürkopp mit einem Arbeitskollegen die Nähmaschinen-Reparaturwerkstatt Dürkopp & Schmidt, aus der die heutige Dürkopp Adler AG und die Dürkopp Fördertechnik GmbH hervorgingen. Mit seiner zweiten Frau Emilie, geborene Jacke, wohnte Dürkopp bis zu seinem Tod 1918 in einer prächtigen, heute als Hotel genutzten Villa in Bad Salzuflen. Prächtig ist auch sein Grab mit einem rund drei Meter großen Rundtempel nach italienischen Renaissance-Vorbildern.
Nähmaschinen und Milch-Zentrifugen
Eine zeitgenössische Variante dieser Grabform findet sich nur wenige Meter entfernt: Die Grabstätte der Familie Albert und Prof. Dr. Ulrike Detmers wurde erst im vergangenen Jahr errichtet. Die Familie ist Miteigentümerin der Gütersloher Großbäckerei Mestemacher. In dem von italienischen Steinmetzen hergestellten Tempietto aus strahlend weißem Carrara-Marmor wacht ein geflügelter Engel. Im Architrav über den ionischen Säulen ist der Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ zu lesen – eine Referenz an Erna Pauline Weber, geborene Stuke, die Mutter von Ulrike Detmers, die hier als erstes Mitglied der Familie begraben liegt.
Ostwestfalen ist Unternehmerland, und auch in Gütersloh sind es die Gräber großer Unternehmerfamilien, die besonders interessant sind. Auf dem evangelischen Teil des Johannesfriedhofs ist die repräsentative Gruft der Familie Mohn zu finden; 1887 übernahm Johannes Mohn von seinem Schwiegervater Heinrich Bertelsmann die Leitung des ursprünglich auf religiöse Literatur ausgerichteten Gütersloher Verlags. 1947 wurde sein frisch aus der Kriegsgefangenschaft entlassener Enkel Reinhard Mohn Chef. Er baute das Unternehmen in den nächsten 50 Jahren zu einem der größten Medienkonzerne der Welt aus.
Miele ist der zweite große Firmenname in Gütersloh. Karl Miele wurde 1869 geboren, machte eine Maurerlehre und erwarb 1895 eine Bau- und Eisenwarenhandlung in Herzebrock. Dort bot er auch Haus- und Küchengeräte an. Miele und der Handlungsreisende für Eisenwaren Reinhard Zinkann gründeten 1899 Miele & Cie. und beschäftigten sich anfangs vor allem mit der Produktion von Milchzentrifugen für Bauern. Heute beschäftigt die Unternehmensgruppe weltweit fast 20.000 Mitarbeiter und macht fast vier Milliarden Euro Umsatz. Miele & Cie. ist weiterhin im Besitz der beiden Gründerfamilien (Miele: 51,1 Prozent, Zinkann: 48,9 Prozent) und Mitglieder beider Gründerfamilien sind in der Geschäftsleitung aktiv. Das Familiengrab der Mieles ist auf dem Pankratius-Friedhof in Gütersloh, das der Zinkanns auf dem Gütersloher Stadtfriedhof zu finden.
Wie der Johannisfriedhof in Bielefeld ist der Ostenfriedhof in Dortmund besonders schön angelegt. Grabsteine mit Hammer und Schlegel, Bergmänner und Kreuze aus Eisen erinnern an die Montan-Tradition der Stadt. Sehenswert ist auch das jüdische Gräberfeld: Verwildert und vernachlässigt steht es sinnbildlich für die große jüdische Geschichte Westfalens und ihren tragischen Bruch im 20. Jahrhundert.
Auf dem Ostenfriedhof liegt eine Frau begraben, die das Leben der Deutschen mindestens genauso stark beeinflusst hat wie Dr. August Oetker mit seinen Back- und Puddingpulvertütchen. Die 1801 als Tochter eines Pfarrers im heute zu Wetter gehörenden Dorf Wengern geborene Henriette Davidis arbeitete nach dem Besuch der Höheren Töchterschule als Gouvernante und Hauswirtschaftslehrerin, teilweise bei ihren verheirateten Schwestern. Sie selbst blieb unverheiratet, zwei Verlobte starben, bevor es zur Heirat kam. Neben ihrer praktischen Arbeit war sie auch schriftstellerisch tätig.
Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gehörte ihr schon zu Lebzeiten 21 Mal neu aufgelegtes „Praktisches Kochbuch“ quasi zur Grundausstattung deutscher Haushalte. Weitere Bücher folgten. Erst als sie auch als Journalistin und als Werbebotschafterin für Liebig’s Fleisch-Extrakt arbeitete, besserte sich ihre wirtschaftliche Lage so weit, dass sie im Alter von 74 Jahren ihre erste eigene Wohnung beziehen konnte – ein Jahr vor ihrem Tod.
Auf dem Ostfriedhof in Gelsenkirchen hat eine echte Ruhrgebiets-Legende ihre letzte Ruhestätte: Reinhard „Stan“ Libuda wurde 1943 geboren und wuchs in Gelsenkirchen-Bismarck auf. 1952 meldete ihn sein Vater beim FC Schalke 04 an, wo er 1960 als Vertragsspieler verpflichtet wurde. Die schon begonnene Lehre als Maschinenschlosser brach er dafür ab. Als Schalke 1965 in der Bundesliga auf dem letzten Platz landete und damit sportlich abgestiegen war, entschloss sich Libuda, zu Borussia Dortmund zu wechseln, um weiter in der Bundesliga spielen zu können und dazu nicht umziehen zu müssen. Nach drei Spielzeiten wechselte er wieder zu Schalke. Mit seiner „großen Liebe“ gewann er 1972 den DFB-Pokal. Im selben Jahr wurde Libuda aufgrund seiner Verstrickung in den Bundesliga-Bestechungsskandal vom DFB auf Lebenszeit gesperrt, zwei Jahre später jedoch begnadigt. Danach spielte er wieder für Schalke und beendete dort 1976 seine Fußballer-Karriere. Nach längerer Arbeitslosigkeit übernahm er für einige Zeit den Tabakladen der Schalke-Legende Ernst Kuzorra. In seinen besten Zeiten umspielte der 26-malige Nationalspieler wendig und dribbelstark die meisten Verteidiger mit Leichtigkeit, so entstand der Spruch: „An Gott kommt keiner vorbei, außer Stan Libuda“. 1996 zeigte sich, dass das nicht stimmt.
Auch Stan Libuda kam nicht an Gott vorbei
Was im Ruhrgebiet der Fußball ist, ist im Münsterland der Reitsport. Und so darf bei einem Spaziergang über den Zentralfriedhof in Münster ein Besuch des Grabs von Dr. Reiner Klimke nicht fehlen. Klimke wurde 1936 in Münster geboren, studierte an der Universität Münster Jura und arbeitete als selbstständiger Rechtsanwalt in Münster. Als Dressur- und Vielseitigkeitsreiter gewann er bei Olympischen Spielen insgesamt sechs Gold- und zwei Bronzemedaillen. Sechsmal wurde er Weltmeister, elfmal Europameister.
Die Gräber auf dem 14 Hektar großen Friedhof direkt an Münsters Aasee erzählen viele interessante Geschichten: Freiherr Clemens von Ketteler war seit 1899 als Gesandter des deutschen Kaisers am Hof des Kaisers von China in Peking tätig und wurde 1900 dort während des Boxer-Aufstands ermordet. Heinrich Brüning war der letzte demokratische Kanzler der Weimarer Republik, der CDU-Politiker Franz-Josef Wuer- meling setzte 1957 als Bundesfamilienminister den „Wuermeling-Pass“ durch, mit dem kinderreiche Familien bis 1992 eine Preisermäßigung beim Kauf von Bahnfahrkarten erhalten konnten. Ganz schlicht ist das Grab des 1945 geborenen und 2003 gestorbenen FDP-Politikers Jürgen Möllemann.
Auch ein international bekannter Jazz-Musiker liegt auf Münsters Zentralfriedhof begraben: Louis Thomas Hardin wurde 1916 als Sohn eines Wanderpredigers im US-amerikanischen Marysville geboren. Als Sechzehnjähriger verlor er bei einer Explosion das Augenlicht; sein Künstlername „Moondog“ erinnert an seinen ersten Blindenhund und dessen Angewohnheit, den Mond anzuheulen. Ab 1943 lebte Hardin in New York, wo er als eine Art musizierender Chlochard regelmäßig auf der Nobelmeile 5th Avenue anzutreffen war. Mit seiner hünenhaften Gestalt, langem Vollbart und einer Wikinger-Kostümierung samt Hörnerhelm und Speer war er bald eine feste Institution des New Yorker Stadtlebens. Moondog nahm unter anderem mit der Jazz-Größe Charles Mingus Schallplatten auf. 1974 engagierte der Hessische Rundfunk ihn für eine Reihe von Konzerten in Deutschland – Hardin gefiel es hier so gut, dass er einfach blieb und sein Straßenmusikantenleben fortsetzte. 1977 sprach ihn an seinem Stammplatz in der Recklinghäuser Altstadt die Studentin Ilona Goebel (später Ilona Sommer) an und lud ihn in ihr Elternhaus nach Oer-Erkenschwick ein. Sie redete ihm die Wikingerkluft aus, brachte ihm einen bürgerlichen Lebensstil nahe und gründete sogar einen eigenen Musikverklag, um seine Werke zu veröffentlichen.
Im Alter avancierte Moondog zu einem Liebling der internationalen Kunstszene und seine Werke wurden in den USA neu auf CD veröffentlicht. 1999 starb er in Münster – sein Grabmal ziert eine Büste, die der Künstler Ernst Fuchs nach seiner Totenmaske gestaltet hat. Ilona Sommer starb 2011 und wurde in der gleichen Grabstätte wie Moondog bestattet.
Das eindrucksvollste Grab auf Münsters Zentralfriedhof hat eine Frau ohne großen Reichtum und höhere Schulbildung: Emma Üffing wurde 1914 im heute zu Hopsten gehörenden Dorf Halverde als neuntes von elf Kindern auf einem kleinen Bauernhof geboren. Trotz einer Rachitis-Erkrankung begann sie 1931 eine Ausbildung als Hauswirtschafterin in dem von den Clemens-Schwestern betriebenen St.-Anna-Krankenhaus in Hopsten. 1934 bat sie um Aufnahme in den Schwestern-Orden, 1936 legte sie ihr Gelübde als Ordensschwester ab. Im Gedenken an ihre Hopstener Chefin gab sie sich den Ordensnamen Euthymia. Sie arbeitete als Krankenschwester in Dinslaken und war dort im Krieg für die pflegerische Betreuung der Kriegsgefangenen zuständig, von denen sie den Beinamen „Engel der Liebe“ erhalten haben soll. Ihre Güte und Hilfsbereitschaft fielen Kollegen und Patienten auf, auch wenn sie einige deshalb für einfältig hielten.
1955 starb Schwester Euthymia an Krebs. Bei ihrer Aufbahrung bildeten sich vor dem Mutterhaus des Ordens Schlangen von Menschen, die ihr die letzte Ehre erweisen wollten. Am offenen Sarg soll eine ihrer Mitschwestern, deren Hand in eine Bügelmaschine gekommen war und starke Verbrennungen und Quetschungen erlitten hatte, Euthymia in einer Fürbitte um Hilfe gebeten haben. Die Hand soll innerhalb kurzer Zeit vollständig geheilt sein. Die Wohltätigkeit von Schwester Euthymia auch über ihren Tod hinaus sprach sich immer weiter herum, und noch heute liest man im Münsterland häufig Zeitungsanzeigen mit Texten wie „Dank an Schwester Euthymia für die Erhörung meines Anliegens“. 1959 wurde von der katholischen Kirche der Seligsprechungsprozess eingeleitet. Am 7. Oktober 2001 wurde sie in Rom von Papst Johannes Paul II. seliggesprochen.
Um für die Verehrung der einfachen Ordensschwester einen angemessenen Platz zu schaffen, wurde über ihrem Grab eine Kapelle errichtet, in der immer noch jeden Tag Dutzende neuer Lichter, Dankplaketten und Blumengestecke abgelegt werden. 2001 entstand durch die Vielzahl der aufgestellten Kerzen ein Feuer und der Bau brannte fast vollständig ab. 2002 konnte die jetzige, ganz modern gestaltete Grabkapelle eröffnet werden.
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