Die Küchen im Visier des Kiepenkerls: Die Schaffung des europäischen Binnenmarktes war gastronomisch für Deutschland bedeutungslos, denn bereits seit dem frühen Mittelalter kamen Produkte und Rezepte für Feinschmecker grenzüberwindend in unsere Küchen.
Bei den gaumenbetonten Mitessern der Nachkriegsgeschichte verursachte es Glücksfühle, dass im Windschatten der Gastarbeiter- und Reisewelle zahlreiche Restaurants aus allen Herren Ländern ihren Küchen nach Deutschland verlegten.
Inzwischen ist der Lebens- und Freizeitgenuss weiter in den Mittelpunkt der Gesellschaft gerückt, denn der Grundsatz lautet: „Wer es nicht zu genießen versteht, ist unfähig zur Muße.“
Was Genuss bedeutet, bestimmten allerdings zunächst die kulinarischen Päpste der beiden gastronomischen Hitlisten. Um ihrer Aktualität und Unfehlbarkeit willen quälen sich die Testesser der selbsternannten Küchenjustiz inkognito durch die Speisekarten ausgewählter Restaurants und Küchen.
Als oberste französische Gerichtsbarkeit zeichnet MICHELIN die Koch-Elite mit einem, zwei oder drei Michelin-Sternen“ aus. Sie stehen für eine Küche voller Finesse, Produkte von ausgezeichneter Qualität und ausgeprägten Aromen. Die „Nouvelle Cuisine“ wurde mit ihrer französische Menükarte für die deutschen Gourmets zum Premiumangebot.
Auch die von Gault&Millau mit Hauben ausgezeichneten Restaurants gehören zu Haute Cuisine. Sterne und Hauben werden nur an Restaurants verliehen, die die Umsetzung von Leistung, überragender Qualität, unvergleichlicher Kreativität und einzigartiger Zubereitung beherrschen.
Die Köche werden mit einer bis fünf Hauben bewertet. Die Hauben gibt es in schwarz und rot. Die roten Hauben sind Lokalen der jeweiligen Kategorie vorbehalten, die noch einen Tick interessanter sind. Aufsteiger des Jahres 2023 war der Küchenchef eines vegetarischen Restaurants in München.
Das übersichtliche Angebot auf den Tellern der ausgezeichneten Lokale steht in der Regel im umgekehrten Verhältnis zum Preis. Deshalb vermochten Ambiente und Choreographie nur für geraume Zeit über die lähmende Einfalt von Hummer, Edelfisch und Terrinen hinwegzutäuschen.
Ganz allmählich vollzog sich die Rückbesinnung auf die inneren Werte der regionalen Küche. Die traditionelle Hausmannskost aus der Region ist nämlich keine neue Bescheidenheit, sondern eine echte Alternative, wenn sie die geschmackliche Handschrift eines ideenreichen Kochs trägt. Seine unverwechselbare Kreativität vermittelt ein Glücksgefühl von naturbelassenem Geschmack ohne Schnörkel bei einem angemessenen Preis-Leistungsverhältnis. Die Devise Fixsternes am westfälischen Küchenhimmel und in den regionalen Küchen lautet: Es muss dem Volksmund und dem Geldbeutel schmecken.
Die kulinarischen Besonderheiten von regionaler Meisterhand erheben den Anspruch, mehr zu sein als lokale Bedürfnisbefriedigung. Das gastronomische Erlebnis hat sich vielerorts zu einer ganzheitlichen Therapie entwickelt, die auf der Zunge zergeht.
Bei den Bemühungen zur Erhaltung der regionalen Artenvielfalt spielen die Frische der Zutaten und zunehmend der kleine ökologische CO2-Fußabdruck eine Rolle. Ein westfälischer Schüttelreim drückt das so aus: „Wie gut schmeckt uns der Suppenhahn, den gestern wir noch huppen sah’n.“
Völlig anders verlief die kulinarische Entwicklung in der früheren DDR. Dort verkümmerte der Reichtum regionaler Produkte durch die staatlich verordnete Planwirtschaft. Individuelle Erfahrungen mit der westlichen Sortimentsvielfalt galten als dekadent. So hielt das magere Angebot die Esser, in Verbindung mit dem abweisenden Service, auf Distanz.
Mit der Öffnung der Mauer fand in den neuen Bundesländern die Wiederentdeckung der regionalen und der internationalen Geschmacksnerven statt. Die Renaissance stellte sich ohne Umwege über die französische Küche ein. Ein hoffnungsvolles Zeichen für den gelungenen Neuanfang war die Tatsache, dass Michelin 1993 bereits 527 Gaststätten und hiesige Küchen als empfehlenswert einstufte.
Speak Your Mind