Die gepeinigte Kreatur

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Die zuckenden, zappelnden und zitternden Leiber sind wie ein einziger unerhörter Schrei. Das elfköpfige Tanzensemble ist die kongeniale Übersetzung für die gepeinigte Kreatur inmitten einer kalten, gefühllosen Gesellschaft. Maura Morales‘ Tanzabend „Verwandlung/Fremdkörper“ hatte gerade erst seine Premiere im Kleinen Haus des Theater Münster. Ein im doppelten Wortsinn bewegender Abend.

Die gepeinigte Kreatur

Ensemble in “Verwandlung/Fremdkörper” von Maura Morales – Foto Oliver Berg

Die Aufführung bleibt unvergessen: Spastische Bewegungen und krampfartige Verrenkungen, die Gliedmaßen bis in die gestreckten Fingerspitzen und gespreizten Zehen gespannt. Die Tänzerinnen und Tänzer kriechen, krabbeln, rollen und springen. Dabei bewegen sie sich in diesem Schauerballett vollkommen synchron. Ihre Bewegungen sind die Transformation eines unerträglichen Schmerzes und unendlicher Verzweiflung, sie sind bestimmt von tiefer Einsamkeit und unerhörter Hilflosigkeit. Der Mensch – die gepeinigte Kreatur. Mehr Alptraum geht nicht! Maura Morales lässt ihre Tänzer agieren wie die Figuren in einem Gemälde von Hieronymus Bosch. So könnte die Hölle sein.

Die gepeinigte Kreatur

Ilario Frigione, Eleonora Fabrizi in “Verwandlung/Fremdkörper” von Maura Morales – Foto Oliver Berg

Die Protagonisten haben bei ihrem ersten Auftritt den Kopf zwischen die Schulter geklemmt als erwartete sie jeden Augenblick einen Schlag oder Tritt ins Kreuz. Sie wirken im wortwörtlichen Sinne niedergeschlagen und gefangen in einer klaustrophobischen Situation. Keiner von ihnen nimmt den anderen wahr, niemand bietet Hilfe an. Mehr Sprachlosigkeit kann man wohl nicht mehr aushalten. Denn die Welt steht Kopf. Von der Decke hängen ein Bistrot-Tisch und ein Stuhl. Es ist als befänden wir uns inmitten des chaotischen Treibens einer Irrenanstalt, in der alle entrückten Insassen zur gleichen Zeit durchdrehen.

Die gepeinigte Kreatur

Ensemble in “Verwandlung/Fremdkörper” von Maura Morales – Foto Oliver Berg

Was die kubanische Choreografin Maura Morales in ihrem neuen Tanztheaterstück „Verwandlung/Fremdkörper“ auf die Bühne bringt, nutzt ein höchst ungewöhnliches und ganz eigenes Tanz-Vokabular. Es ist so hart und brutal, so ausdrucksstark und mächtig, dass man den Schmerz und die Verzweiflung der Protagonisten am eigenen Körper zu spüren und nachzuvollziehen scheint. „Jede Bewegung hat eine klare Motivation“, berichtet Maura Maurales. „Ich versuche dem emotionalen Zustand, der Situation, nachzuspüren und Ausdruck zu geben. In meiner Arbeit sind Intention und Motivation wichtiger als Form. Es geht mir um die Authentizität der Bewegung: das Nachspüren der Verwandlung, die sich erst physisch und zunehmend psychisch vollzieht.“

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Das Stück sollte ursprünglich bereits vor einem Jahr über die Bühne gehen. Doch wie so vieles andere auch, musste der Tanzabend wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden. Letztlich reflektiert die Choreographie auch die besondere Erfahrung von Vereinsamung inmitten des Lockdowns. „Das Stück entstand vor dem Hintergrund der Pandemie und repräsentiert auch eine außergewöhnliche Zeit und Lebenssituation“, schreibt Maura Morales im Programmheft. „Der Zustand des Wartens, das Gefühl der Einsamkeit, die Unfähigkeit zu kommunizieren und der Wunsch nach Freiheit.“

Ensemble in “Verwandlung/Fremdkörper” von Maura Morales – Foto Oliver Berg

Die Bewegungen des Ensembles werden getrieben von einer durchdringenden, rhythmischen, fast mechanischen Komposition, die eigens von Michio Woirgardt für das Stück komponiert und mit verschiedenen Instrumenten eingespielt wurde. Geräusche, Klang, Rhythmus und Tanz sind wie für einander geschaffen. Kein Wunder: Michio Woirgardt und Maura Morales arbeiten seit vielen Jahren erfolgreich zusammen. Gemeinsam sind sie auch der kreative Motor ihrer Tanzkompagnie.

„Verwandlung/Fremdkörper“ zeigt mit einem wundervoll choreographierten Ensemble zu was Tanz und Bewegung fähig sind. Als Zuschauer kann man über die unglaubliche Leistung des Ensembles, aber auch die eines jeden einzelnen Tänzers nur staunen. Auf der Bühne agieren María Bayarri Pérez, Marieke Engelhardt, Eleonora Fabrizi, Ilario Frigione, Fátima López García, Matteo Mersi, Tarah Malaika Pfeiffer, Adrián Plá Cerdán, Enrique Sáez Martínez, Raffaele Scicchitano und Leander Veizi. Ihr tänzerischer Ausdruck und ihre Körpersprache springt direkt und ungefiltert über ins Publikum, so dass man sich auf seinem Theatersitz nur noch winden möchte. Einfach großartig!

Ensemble in “Verwandlung/Fremdkörper” von Maura Morales – Foto Oliver Berg

Inspiriert von der 1915 erschienenen Erzählung „Die Verwandlung“ von Franz Kafka, entwickelte Maura Morales in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Michio Woirgardt eine Neukreation für das TanzTheaterMünster. In der tänzerischen Auseinandersetzung mit dem Thema „Metamorphose“ erforscht sie den Prozess der Entmenschlichung, indem sie gesellschaftliche Strukturen hinterfragt und Aspekte der Ausgrenzung untersucht. Dabei steht die sich immer mehr verändernde Fremd- und Selbstwahrnehmung im Mittelpunkt des Stückes.

Die gepeinigte Kreatur

Ensemble in “Verwandlung/Fremdkörper” von Maura Morales – Foto Oliver Berg

Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ beschreibt den Vorgang einer alptraumhaften Metamorphose eines fleißigen, angepassten Angestellten, der sich eines Tages im Körper eines Käfers wiederfindet. Hilflos und nahezu unfähig sich zu bewegen, muss Gregor Samsa feststellen, dass er nicht mehr in der Lage ist, menschlich zu kommunizieren. Ohnmächtig und nutzlos geworden für die Gesellschaft, erlebt der Protagonist, wie schnell das Entsetzen und Mitleid seiner Umwelt in Beschämung und Widerwillen umschlägt und letztendlich zu seiner Ausgrenzung und Isolation führt.

Die Choreographie von Maura Morales löst sich vom Text der Geschichte Kafkas und versucht gar nicht erst in einzelnen Bildern und Szenen zu erzählen. Sie greift einfühlsam und zugleich expressiv die innere Spannung und die Leidensgeschichte Samsas als gepeinigte Kreatur auf und bringt sie in eine tanzbare und bis ins Detail choreographierte Form. Unbedingt sehenswert! (Jörg Bockow)

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