Kiepenkerl-Blog: Der Kohl’sche Kostenbegriff

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Dogmengeschichtlich ist erwiesen, dass herausragende ökonomische Erkenntnisse die Epoche überleben, die sie prägten. Nach dem Fall der Mauer erlebte die These von Adam Smith vom abnehmenden Bodenertrag eine späte Renaissance, und zwar durch die sinkenden Erzeugerpreise als Folge der liberalen Agrarpolitik. Auch aus anderen Gründen ist davon auszugehen, dass der Kohl’sche Kostenbegriff als prägendes Element mit dem Prozess der deutschen Einheit bleiben wird.

Das Brandenburger Tor mit Quadriga in Berlin, Wahrzeichen des wiedervereinigten Deutschlands Foto: Thomas Wolf, www.foto-tw.de / Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0

Kaum ein Thema bewegte die Gemüter nach der Wiedervereinigung mehr als die Finanzierung der deutschen Einheit. Aus gutem Grund, denn das Schreckgespenst staatlicher Zahlungsunfähigkeit machte die Runde. Ausufernder Finanzbedarf und rückläufige Beschäftigung entlarvten den Traum der Politiker von den Selbstheilungskräften der sozialen Marktwirtschaft schnell als Illusion.

Vermutlich wird der von Kohl im Zusammenhang mit der deutschen Einheit neu definierte Kostenbegriff wohl als geniale Simplifizierung komplexer volkswirtschaftlicher Tatbestände in die Dogmengeschichte eingehen. Weil die Kameralistik nur Einnahmen und Ausgaben kennt, bezeichnete Kohl sämtliche Ausgaben, die mit der deutschen Einheit getätigt wurden, als „Kosten der deutschen Einheit“.

Im Zusammenhang mit den steuerakrobatischen Meisterleistungen der Abschreibungsjongleure und Investitionsgaukler entstand die Bonner Morgana vom zeitlosen Wohlstandsausgleich zwischen West- und Ostdeutschland nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren: Schüttet man im Westen große Geldmengen hinein, entstehen im Osten automatisch blühende Landschaften. Der Faktor Zeit spielte bei diesem physikalischen Vorgang keine signifikante Rolle. Doch eine „Wiedervereinigung light“ gab es nicht, denn die Probleme waren komplexer und die Sanierungsaufwendungen höher, als die Politiker glauben machten.

Aus ostdeutscher Sicht war der Wunschglaube gar nicht so abwegig, denn im ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden hatte man die Werteskalen systematisch ausgetauscht. Nicht technischer Fortschritt und Leistung, sondern die „Helden der Arbeit“ waren Leitbilder der staatlich gelenkten Planwirtschaft, in der Eigeninitiative nicht vorgesehen war. Aktivisten wie Hennecke fuhren sich für den Sieg des Sozialismus über die Arbeit mit dem Hinterrad ins Vorderrad. Diese Überlegenheit der Arbeiterklasse befreite die Produktion in aller unternehmerischen Windstille von den Kosten, die als dekadenter Rest der kapitalistischen Ausbeutung galten. Vergesellschaftete Kosten und schrottreife Produktionsmittel bildeten in der DDR über 40 Jahre die solide Grundlage für eine kostenfreie Gesellschaft.

Bei dieser kostenneutralen Gemütslage hätten zur Überwindung der Planwirtschaft zunächst Psychologen und erst danach die Kostenrechner an die Front gemusst. Stattdessen hat die Bundesregierung den marktwirtschaftlichen Umbau in die Treuhandanstalt outgesourced, d. h. die Produktionsmittel wurden aus dem Unternehmen Wiedervereinigung ausgegliedert. Damit sollte der komplexe Vorgang vom Wirtschaftsministerium und vom Bundeshaushalt ferngehalten werden. Mangels ernsthafter Alternativen glaubten die Politiker fest daran, dass das treuhänderische Anstaltspersonal den Rest schon besorgen werde, zumal es nicht an drittklassiger Besetzung fehlte. Die westdeutsche Wirtschaft hatte schließlich die Entsendung von ausgemusterten Führungskräften zugesagt, die sich mangels Einfühlungsvermögen schnell im Stil einer Kolonialmacht etablierten.

Es gehört zu den unbestreitbaren Erfolgen der deutschen Einheit, dass sie eine Rechtfertigung lieferte für den Begriff „Unkosten“. Danach sind Unkosten überflüssige Ausgaben oder vergeudete Subventionen, die man bei gründlicher Vorbereitung und Durchführung sowie einer geringen Schlupfvariante hätte vermeiden können. Bewusst oder unbewusst wurde bei den „Kosten der deutschen Einheit“ nicht zwischen Aufwendungen für Investitionen oder sinnvollen Sanierungsmaßnahmen einerseits und sinnlos vergeudeten Aufwendungen andererseits unterschieden.

Entschuldigend ist zu berücksichtigen, dass der Übergang von einer Planwirtschaft zur Marktwirtschaft nie zuvor erprobt wurde. Weniger entschuldbar ist, dass die Politiker die Wiedervereinigung zwar immer wollten, aber auf den Ernstfall einer wirtschaftlichen Integration auch nicht ansatzweise vorbereitet waren.

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