Münster: Über die Würde des Menschen

Münster – Der Text ist der eigentliche Star. Er ist als ein Lehrstück angelegt. Der Plot ist vor allem mit didaktischem Geschick entwickelt. Man kann sich vorstellen, dass demnächst ganze Schulklassen anrücken, um anschließend heftig über das Gesetz und die Würde des Menschen zu diskutieren. Vor den Augen der Zuschauer verwandelt sich die Bühne des Theaters in einen Gerichtssaal. Im Wolfgang Borchert Theater wird das Stück „Terror“ gegeben.

Monika Hess-Zanger als vorsitzende Richerin im Mordprozess

Monika Hess-Zanger als vorsitzende Richterin im Mordprozess

Ferdinand von Schirachs Theaterstück „Terror“ ist das zurzeit am häufigsten gespielte Stück in Deutschland. Seit es im Herbst des vergangenen Jahres in Frankfurt uraufgeführt wurde, haben knapp 20 Bühnen nachgezogen. Jetzt auch in Münster. Intendant Meinhard Zanger hat ein gutes Gespür für den Zeitgeist. Er weiß es zu schätzen, wenn ein Stück das Zeug hat zum Stadt-Gespräch zu werden.

Dieses Gerichtsdrama zieht das Publikum alleine schon durch seine Brisanz und seine Aktualität in seinen Bann. Es ist die Brutalität einer möglichen Wirklichkeit, die niemand kalt lässt. Vor allem nachdem mit den Anschlägen in Paris, Nizza und München der Terror auch in Europa angekommen ist. Man spürt seine eigene Ohnmacht. Insgeheim ballen viele die Faust in der Tasche. In solchen Situationen muss man doch etwas tun dürfen?!

Marion Mainka (Verteidigerin) und Florian Bender (Angeklagter)

Sie haben schnell die Sympathie des Publikums: Marion Mainka (Verteidigerin) und Florian Bender (Angeklagter)

Mit einem kleinen Kunstgriff macht von Schirach die Zuschauer zum Teil der Inszenierung. Die Zuschauer werden als Schöffen eines Mordprozesses angesprochen. Am Ende der Gerichtsverhandlung muss jeder einzelne im Publikum entscheiden: Schuldig oder nichtschuldig. Nach einer kleinen Pause werden die Zuschauer dafür zum Hammelsprung aufgefordert. Erst dann steht das Urteil und die vorsitzende Richterin kann das Urteil verkünden und begründen.

Die vorsitzende Richerin leitet den Prozess

Souverän und glaubwürdig: Die vorsitzende Richerin leitet den Prozess

Übrigens hat Ferdinand von Schirach für beide Fälle eine ebenso kluge wie einleuchtende Urteilsbegründung vorformuliert. Das mag paradox erscheinen. Also ist das Grundgesetz doch nicht so eindeutig? Auf einer eigenen Website werden die Ergebnisse der allabendlichen Entscheidungen aller Theater aufsummiert, in denen „Terror“ gegeben wird.

Aktuell plädieren übrigens fast 60 Prozent der Zuschauer für einen Freispruch. Einige der Zuschauer sehen in dem Fliegeroffizier sogar einen Helden. Verfassungsrechtler mahnen zur Vorsicht. Nur naheliegend. Sie sehen in dem Plot eine nicht zu akzeptierende Verzerrung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Daran darf es keinen Zweifel geben. In diesem Punkt kennt das Grundgesetz keinen Ermessensspielraum.

Durchaus von Selbstzweifeln geplagt: Er hat eigenmächtig entschieden. War es vielfacher Mord?

Durchaus von Selbstzweifeln geplagt: Er hat eigenmächtig entschieden. Entgegen dem Befehl seiner Vorgesetzten. War es vielfacher Mord?

“Herzlich willkommen, meine Damen und Herren. Bevor wir anfangen, möchte ich Sie bitten, alles, was Sie im Vorfeld über das Stück und diesen Autor gelesen haben, zu vergessen.” Die ersten Worte richtet die Vorsitzende direkt an das Publikum und gibt Anweisungen wie es in den folgenden zwei Stunden der Hauptverhandlung sich zu verhalten hat – eben als Schöffen in einem Mordprozess. “Ich eröffne die Sitzung der 16. Großen Strafkammer, Schwurgericht. Bitte nehmen Sie Platz.”

Angeklagt wird Lars Koch, ein Kampfpilot der Luftwaffe, der gegen den Befehl seines Vorgesetzten ein von Terroristen gekapertes Passagierflugzeugs abschoss, kurz bevor es ein mit 70.000 Menschen vollbesetztes Fußballstadion erreichen konnte. 146 unschuldige Menschen kamen dabei ums Leben. Genau so viele Menschen wie Zuschauer im Borchert Theater Platz finden.

Der Zeuge (Sven Heiß) kann nur wenig zur eigentlichen Frage beisteuern.

Der Zeuge (Sven Heiß) kann nur wenig zur eigentlichen Frage beisteuern. Seine Einlassungen wecken zweifelhafte Assoziationen.

Es ist ein bedrückend aktuelles Szenario, das die Frage aufwirft, mit welchen Mitteln sich ein Rechtsstaat gegen Terroranschläge zur Wehr setzen darf. Die Staatsanwaltschaft plädiert auf Mord, die Verteidigung hält dagegen. Zwar hat Lars Koch Unschuldige geopfert, aber was wiegt dieses Opfer gegen die 70.000 Menschen, die er „wahrscheinlich“ durch seine Tat gerettet hat.

„Die einzige Frage in diesem Verfahren, die einzige Frage, die Sie hier und heute gestellt bekommen, lautet: Durfte Lars Koch diese 146 Menschen töten? Gibt es Situationen in unserem Leben, in denen es richtig, vernünftig und klug ist, Menschen zu töten? Und mehr noch: in denen alles andere absurd und sogar unmenschlich wäre? Wir müssen begreifen, dass wir in einer Welt leben, in der das Schrecklichste längst Realität geworden ist. Und es ist Ihre Aufgabe, verehrte Damen und Herren Richter, ihre Pflicht, diese Realität zu erkennen und zu bewerten.”

Alice Zikeli bringt als Nebenklägerin und Zeugin ein neues Gedankenspiel in den Prozess ein.

Alice Zikeli bringt als Nebenklägerin und Zeugin ein neues Gedankenspiel in den Prozess ein. Vielleicht könnte ihr Mann noch leben, wenn der Angeklage nicht eigenmächtig entschieden hätte.

In Ferdinand von Schirachs Stück „Terror“ geht es im Kern um die Frage, ob man Menschenleben gegeneinander aufwiegen kann. Doch von Schirach hat zahlreiche realistische Überlegungen und Sachverhalte in seinem Text eingebaut, die die Entscheidung nicht einfach machen, teilweise aber auch von der einzig wichtigen Frage ablenken. Warum beispielsweise ist das Fußballstadium in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht geräumt worden? Hat Lars Koch vielleicht gar nicht mitbekommen, dass das Stadion parallel geräumt werden sollte? Waren die Passagiere der Maschine gerade dabei, den Terroristen im Cockpit zu überwältigen und den Anschlag aus eigener Kraft abzuwenden? Durfte der Offizier sich über den Befehl eigenmächtig hinwegsetzen? Warum hat die Kommandozentrale nicht von sich aus den Befehl gegeben, die gekaperte Maschine abzuschießen? Wie sehen die tatsächlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen aus? Gibt es den Fall eines Notstandes, der den Staat in die Lage versetzt, so entscheiden und handeln zu dürfen (vielleicht sogar zu müssen), die der Kampfpilot selbstständig entschieden hat?

Die Inszenierung in Münster hält sich streng an die Textvorlage – und das ist gut so. Die Inszenierung bleibt kühl und sachlich. Von etwaigen Versuchungen, die Szene aufzuladen oder gar noch weiter zu dramatisieren, hat sich Regisseur Meinhard Zanger nicht verführen lassen. Die Schauspieler füllen ihre Rollen glaubhaft aus, so dass es, neben dem didaktischen Gedankenspiel zu folgen, auch ein Spaß ist, dem engagierten Ensemble zuzuschauen. Das hat Klasse und macht bei aller Anstrengung, die das Drama als Lehrstück verursacht, einen großartigen Theaterabend.

Souverän und völlig glaubhaft agiert Monika Hess-Zanger als Vorsitzende. Florian Bender gibt den Angeklagten durchaus mit leisen Selbstzweifeln und ohne jede Helden-Attitüte. Seine Entscheidung ist ihm beileibe nicht leicht gefallen. Das sieht man ihm an und kann es auch nachvollziehen. Befehlsverweigerung aus Gewissensnot. Die Staatsanwältin Nelson wird von Hannah Sieh mit der gebotenen Kälte und Schnippigkeit gespielt. Ihre Anklage ist messerscharf. Marion Mainka kann als Verteidigerin und Gegenspielerin der Anklage auf die Sympathie eines Großteils des Publikums bauen. Wenn sie ihr Abschlußplädoyer hält, spielt sie mit den Emotionen und der inneren Zustimmung der Zuschauer. Die sind allzuschnell bereit, Menschenleben gegen Menschenleben auszuspielen. Spätestens hier aber wird deutlich, wir sind in einem Theater und nicht in einem Gerichtssaal. Hier ist es erlaubt zu philosophieren und sich von seinen Gefühlen leiten zu lassen. Mal so, mal so. Recht gesprochen wird hier nicht! (Jörg Bockow)

Wolfgang Borchert Theater / Am Mittelhafen 10 / 48155 Münster
Telefon 0251 – 40019

www.wolfgang-borchert-theater.de

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