Zeitalter des Fortschritts – und der Bewegungslosigkeit

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Westfalen – Unter dem Motto Bewegungslosigkeit im Zeitalter des Fortschritts zeigt das Museum Huelsmann in Bielefeld vom 19.Juni bis 8. November 2015 die Ausstellung VIVA VICTORIA.

Zeitalter des Fortschritts

Fotograf: Robert Krischan ter Horst, Design: Yulia Lebedeva (Material: 4500 Kunststofftrinkhalme und Draht über elastischen Overalls) Model: Anna Angold, Styling: Hanna Funke

Alle paar Jahre wird ein Roman der Brontë-Schwestern neu verfilmt (besonders beliebt: »Jane Eyre« oder »Sturmhöhe«); Biopics über die englische Königin Victoria (1819-1901) rühren zwischen Herz und Krone, und im deutschsprachigen Raum erinnerte Romy Schneider als »Sissi« an die »Schicksalsjahre einer Kaiserin«. Woher rührt die Faszination für eine Epoche, in der Frauen Tonnen von Stoff am Leibe trugen und im »trauten Heim« für Mann und Kinder schufteten? Gibt es vielleicht eine heimliche Sehnsucht nach Zeiten, in denen die Geschlechterverhältnisse strikt geordnet waren? Hat sich bis heute, außer der Mode, überhaupt so viel geändert? Verharrt die Moderne nicht vielmehr in einer rasenden Bewegungslosigkeit? Wie sieht eigentlich die Rolle der Frau heute aus? Diese und ähnliche Fragen stellten Studierende des Fachbereichs Gestaltung der Fachhochschule (FH) Bielefeld.

In Seminaren der Professoren Dr. Anna Zika (Theorie/Kunstwissenschaft), Willemina Hoenderken (Mode) und Nils Hoff (Illustration). Dabei entstanden opulent-skulpturale Textilkreationen, Gebilde, Zeichnungen, Animationen und interaktive Graphic Novels, die ab dem 18. Juni 2015 im Bielefelder Museum Huelsmann für Kunst und Design (»Weiße Villa«) zu sehen sein werden.

Motive des Einschnürens, Einengens oder des Gehäuses bilden die politische und familiäre Unfreiheit von Frauen um 1850 ab. Opulente, ausladende und raumnehmende Gebilde verweisen auf die Position der (verheirateten) Frau als Repräsentantin des männlichen Wohlstands sowie auf ihre Funktion als schwer zugängliches Objekt männlicher Begierden bis hin zur Fetischisierung einzelner Körperteile.

Zeitalter des Fortschritts

Fotograf: Robert Krischan ter Horst, Design: Justina Glass (Material: Kunsthaar, Kunstleder, Chiffon), Model: Anna Angold, Styling: Hanna Funke

Als Materialien wurden neben konfektionierten Stoffe unter anderem verbranntes oder gepresstes Leder, Holzlack, menschliche Haare, Tierknochen, Rattan, Blei oder Edelstahl verwendet sowie 4.500 Trinkhalme oder Magnetbänder aus alten Filmkassetten. Aufwändige Handarbeitstechniken assoziieren nicht nur das ständige Sticken, Stricken, Sticheln, Klöppeln oder Häkeln, wie es im 19. Jahrhundert üblich war, sondern lassen auch Konzentration und intensive Auseinandersetzung mit dem Entwurfskonzept erfahrbar werden.

Kurze Animationsfilme und Projektionen zeigen die Reduzierung der bürgerlichen Frau zum repräsentativen Hauptausstellungsstück eines überladenen Saloninterieurs oder als lebenslänglich in ihrem Korsett gefangene. Stickrahmen mit morbiden Kreuzstichmotiven sowie eine an eine riesige Votivtafel erinnernde Zeichnung hinter Glas verweisen auf mal subtile und mal sehr drastische Weise auf die unentwegte und vielfach tödliche »Gebärpflicht« der Frauen. Gezeichnete Schleifenlabyrinthe, Haargespinste und Insektenglieder illustrieren die Ohnmacht und Ausweglosigkeit der gesellschaftlich, sozialen und persönlichen Verwicklungen, Verstrickungen und Verschnürungen der Frauen des 19. Jahrhunderts.

Zeitalter des Fortschritts

Fotograf: Robert Krischan ter Horst, Design: Liliana Mendes Schneebeli (Material: Seide, Kunsthaar, Rattan, plissierter Chiffon und Makrameetechniken), Model: Anna Angold, Styling: Hanna Funke

Trotz feiner und geschwungener Linien zeichnen die Studentinnen und Studenten ein wenig romantisches und keineswegs verklärendes Bild der Weiblichkeit in einer aus ihrer Perspektive zum Glück längst vergangenen Epoche.

Ein ebenfalls von Studierenden gestalteter Katalog über die Bewegungslosigkeit im Zeitalter des Fortschritts dokumentiert die Exponate und vertieft in Essays und anderen Texten über die Biedermeiermode, scheiternde Hysterikerinnen oder die Schriftstellerin George Sand das Lebensgefühl von Frauen um 1850.

Die Ausstellung wird am 18. Juni 2015 eröffnet und ist vom 19. Juni bis zum 8. November 2015 in den Räumen der »Weißen Villa« zu sehen.

www.museumhuelsmann.de

 

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