Gnade vor Recht ergehen lassen

Westfalen- Der Text ist so trocken wie eine Gefängnisstulle, so sperrig wie eine Gerichtsakte und so nüchtern wie die deutsche Strafprozessordnung. Es geht um Schuld und Sühne, um Gnade und Vergebung, um das Individuum und den Staat, um Macht und Gewalt, es geht letztlich um Gott und die Welt. Prinzipien stehen sich als unversöhnbare Antagonismen diametral gegenüber und mittendrin erscheint das Christentum als eine Heilslehre.

Cornelia Froboess als Cathy im Streitgespräch mit der Staatsanwältig Ann (Sibylle Cannonica) - Foto: Mathias Horn

Cornelia Froboess als Cathy im Streitgespräch mit der Staatsanwältin Ann (Sibylle Cannonica) – Foto: Mathias Horn

Die Ruhrfestspiele zeigen “Die Anarchistin” des amerikanischen Drehbuchautors und Dramatikers David Mamet in einer Inszenierung des Münchner Residenztheaters. Regisseur ist Martin Kušej. Das schwergewichtig daherkommende Drama versuchen zwei große Damen des deutschen Theaters zum Leben zu erwecken: Cornelia Froboess und Sibylle Canonica. Der Ort des Dramas: eine nüchterne, grell ausgeleuchtete Verhörzelle in einem modernen Staatsgefängnis. Ein Tisch. Ein Stuhl. Ein Telefon und eine Handakte, nichts mehr. Ein Kammerspiel. Die klaustrophobische Situation vermag auf großer Bühne des Festspielhauses nicht glaubwürdig dargestellt werden. Da sollten gerade die kleinsten Gesten, Blicke und Bewegungen eigentlich lesbar sein. Ab der zehnten Reihe oder gar im Rang konnte man davon kaum etwas mitbekommen. Schade.

Am Broadway ist das Stück trotz großer Besetzung schon nach wenigen Aufführungen gefloppt. Wahrscheinlich auch deswegen, weil ein solches Kammerspiel auf großer Bühne wenig Sinn macht. Gerade mal 17 Mal wurde es dort aufgeführt. Das ist nach den Regeln des amerikanischen Entertainments eine schiere Katastrophe. Das Publikum mochte die dramatisch inszenierte Vorlesung über Staatsphilosophie einfach nicht. Daran konnte auch Schauspielerin Debra Winger nichts mehr ändern.

Zwei Prinzipien stehen sich unversöhnlich gegenüber. - Foto: Mathias Horn

Zwei Prinzipien stehen sich unversöhnlich gegenüber. – Foto: Mathias Horn

Auch in Deutschland tut sich das Stück trotz brillanter Schauspieler schwer, obwohl es vor den Terroristen-Prozessen unserer Tage eine unerhörte Aktualität besitzt. Die Spanne reicht von der Begnadigung ehemaliger RAF-Mitglieder, deren Zeit inzwischen abgelaufen ist, über die verurteilten Islamisten, die den Staat mit Terrorakten bedroht und Menschen gemordet haben bis hin  zum aktuellen NSU-Prozess, der die rechtsradikalen Mörder zur Verantwortung zieht. Der Staat greift durch und verkörpert Recht und Gesetz. Die Gesellschaft wird irgendwann vor den Fragen stehen: Wie lange ist “lebenslänglich”? Können Täter sich innerhalb der Haft verändern und umdenken? Dürfen wir Gnade vor Recht ergehen lassen? Kann und darf ein Staat sich Mitgefühl leisten?

Cathy (Cornelia Froboess) sitzt seit fünfunddreißig Jahren wegen terroristischer Anschläge und wegen eines Polizistenmords im Gefängnis. Ihr gegenüber Ann (Sybille Cannonica), die als Gutachterin darüber zu befinden hat, ob dem wiederholten Antrag auf Haftentlassung endlich stattgegeben wird. Cathy behauptet, sie habe über die Jahre ihrer Haft zum Christum und zu Gott gefunden. Und sie möchte noch einmal ihren Vater sehen, der im Sterben liegt. Ob Cathy ihre Taten bereut, hütet sie als ihr privates Geheimnis, stattdessen verweigert sie sich aber bis zum Schluß beharrlich, den Aufenthaltsort ihrer ehemaligen Komplizin zu verraten.

Im heftigen Dialog stehen sich zwei offenbar miteinander auch gealterte Frauen gegenüber, die nicht unterschiedlicher sein können. Schon rein äußerlich: Die eine in trister, grüner Anstaltskleidung, die andere im schicken Businesskostüm und auf hohen Hacken stehend. Es entspinnt sich aus der Prüfung  zuerst ein Verhör und schließlich ein Streitgespräch, bei dem Ann sich als Staatsanwältin geriert, die kurz vor ihrem Ruhestand noch einmal ein Exempel statuieren möchte: Der Staat kennt keine Gefühle, er entscheidet nach Recht und Gesetz. Cathy erfährt keine Gnade, im Wechselspiel der Argumente werden Legitimität und Begründungen des Staates auf den Kopf gestellt. Das ist pure Philosophie wie sie bereits in den Büchern steht. Cathy zieht  ihren neuen Glauben als Argument heran – aus der Diskussion über Staatsphilosophie wird eine etwas an den Haaren herbeigezogene Auseinandersetzung über Gott und den Glauben.

Unterhaltsam kann ein solcher Abend kaum sein. Das Thema ist schwerste Kost. Dem Dramtiker ist allerdings auch kaum etwas eingefallen, um dennoch das Spiel mit mehr Überraschungen und mehr Chili zu würzen. Ein Drama nach dem Lehrbuch. Die Wendungen sind vorhersehbar. Das Ende auch. Glänzend allerdings sind die Schauspielerinnen, die aus dem spröden Text immerhin ein sehenswertes Spiel entfalteten. Der große Applaus galt denn auch vor allem ihren herausragenden Leistungen. (Jörg Bockow)

Ruhrfestspiele Recklinghausen GmbH  / Otto-Burrmeister-Allee 1  / 45657 Recklinghausen
Telefon 02361 – 918-0
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