Westfalen – Bis 14. April 2013 zeigt der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) in seinem LWL-Museum für Archäologie in Herne auf rund 800 Quadratmetern die Sonderausstellung “Schädelkult – Mythos und Kult um das Haupt des Menschen”.
Als Reliquie verehrt, als Trophäe gesammelt oder als Mode-Accessoire genutzt – mit mehr als 300 Exponaten wird der menschliche Schädel in den Mittelpunkt gestellt.
Die Besucher gehen in der Sonderausstellung nicht nur auf eine geschichtliche Reise, sondern tauchen auch in die verschiedenen Kulturen der Kontinente ein.
Verschiede Ausstellungsräume, angeordnet nach Erdteilen, zeigen, wie unterschiedlich die Menschen mit dem Schädel umgehen und welche Bedeutung ihnen zugesprochen wird. “Zwei Schädelexponate aus dem Kreis Höxter zeigen uns, dass auch in Westfalen der Schädelkult existiert”, sagt LWL-Chefarchäologe Dr. Michael Rind. Dazu gehört eine mit mehreren Stoffschichten umhüllte und auf einem Kissen ruhende Schädelreliquie, die kürzlich in der Wand der Klosterkirche Brenkhausen (Kreis Höxter) gefunden wurde. Die unterste Textilschicht stammt vermutlich aus dem 13. Jahrhundert, während die darüberliegenden Schichten erst nach dem Jahr 1600 hinzugefügt wurden. Dieses stetige Bekleiden des Schädels deute darauf hin, dass es sich um einen Schädel mit hoher religiöser Bedeutung handelte, so Rind.
Außerdem ist in der Ausstellung eine der ältesten Schädelöffnungen in Westfalen zu sehen. Der Kopf stammt aus einem über 5.400 Jahre alten Steinkammergrab in Warburg (Kreis Höxter). Der Kopf eines Mannes aus der Jungsteinzeit, der nach der Operation noch längere Zeit lebte, weist ein trapezförmiges Loch auf, das auf einen chirurgischen Eingriff, eine sogenannte Trepanation hindeutet. “Der Schädel ist schon länger Teil unserer Dauerausstellung, ohne dass wir wußten, was für einen Schatz wir tatsächlich haben”, sagt Dr. Josef Mühlenbrock, Leiter des LWL-Museums für Archäologie in Herne. Für die Sonderausstellung ließen die Verantwortlichen den Schädelknochen von Wissenschaftlern der Curt-Engelhorn-Stiftung und Mannheim untersuchen.
“Kopfjagd, Voodoo-Kult, Schrumpf- oder Kristallschädel – sie alle verbindet ein Ritual oder Mythos und sie zeigen, welche Faszination von dem menschlichen Haupt ausgeht”, so Projektleiterin Dr. Constanze Döhrer. Ob als christliche Reliquien oder Gegenstand der Wissenschaft, um den menschlichen Schädel ranken sich Mythen. Zu ihnen zählt auch ein kleiner weißer Schädel aus Alabaster. Manche Wissenschaftler schreiben das Objekt Leonardo da Vinci zu, denn dieses Schädelmodell weist anatomische Übereinstimmungen zu seinen Zeichnungen auf.
Nach den Mythen führt die Ausstellung in die Moderne. Mittels Computertechnik ist es möglich, reinen Schädelformen ein Gesicht zu geben. Mit diesem Verfahren rekonstruierten Wissenschaftler beispielsweise das Gesicht der steinzeitlichen Moorleiche Moora, die im Landkreis Nienburg (Niedersachsen) gefunden wurde.
Dass der Kult um den Schädel nicht nur den angeblich primitiven Gesellschaften zugeschrieben werden kann, zeigt der Ausstellungsbereich “Europa”. Von der europäischen Schädelverehrung zeugen angebetete Reliquien von Heiligen in Kirchen sowie kunstvoll bemalte Köpfe in sogenannten Beinhäusern.
Hier werden bunt bemalte Totenschädel neben- und übereinander aufgereiht. Besonders in Teilen Österreichs und Süddeutschlands wurde dieses Brauchtum noch bis in den 1980er Jahren ausgeübt. Die Sitte der Zweitbestattung war in Mitteleuropa weit verbreitet. Der Grund: die Gräber auf den kleinen Friedhöfen mussten, nach einer Ruhezeit von fünf oder sieben Jahren, aus Platzmangel geräumt werden. Die nicht verwesten Knochen – meist Oberschenkelknochen und der Schädel – wurden gereinigt und anschließend in den Beinhäusern untergebracht. Zur Identifizierung malten Totengräber beispielsweise Namen und Lebensdaten der Toten auf die jeweiligen Schädel, oder ver-zierten den Knochen mit bunten Blumenranken.
Für den Mediziner Franz Joseph Gall (1758-1828) war der menschliche Schädel ebenfalls von Bedeutung. Er vertrat die Lehre der “Phrenologie”. Demnach konnte er anhand der Schädelform die Charaktereigenschaften ertasten. Laut seiner These besitzen Schlauheit, Witz, Farb- oder Tonsinn einen festen Platz im Gehirn. Je nach Ausprägung der Eigenschaft drücke sie sich im Schädelknochen ab. Obwohl seine Theorie schon zu Lebzeiten kritisiert wurde, hatte er in Deutschland, Österreich und Frankreich viele Anhänger. Sogar der Dichter Johann Wolfgang von Goethe ließ sich den Kopf von Gall abtasten und besaß einen eigenen Phrenologieschädel, auf dem die verschiedenen Charaktereigenschaften und deren Sitz geschrieben standen.
Rätsel gibt der Fundplatz im pfälzischen Herxheim auf: In einem doppelten Grubenring rund um eine Siedlung der späten Jungsteinzeit (5.000 bis 4.950 v. Chr.) fand man Schädelschalen, zerstückelte Arm- und Beinknochen, zertrümmerte Keramik und Tierknochen, Überreste von über 500 Männern, Frauen und Kindern. Es gibt keine Anzeichen, die auf eine gewaltsame Tötung hindeuten. Die Toten sind auch nicht Opfer von kriegerischen Handlungen geworden. Man häutete die Köpfe, entnahm das Gehirn und löste gezielt das Schädeldach. Sind es Spuren eines rituellen Kannibalismus? Sicher ist, dass dieser Fundplatz Teil eines komplexen Rituals war, das im Europa dieser Zeit einmalig ist.
Die Kristallschädel, die fälschlicherweise dem Volk der Maya zugeschrieben werden, gehören zu den populärsten Schädelkult-Objekten. Sie und ihr mysteriöser Ursprung finden viele Anhänger, die glauben, dass laut Maya-Kalender in diesem Jahr, am 21. Dezember 2012, die Welt untergeht. Das könne nur verhindert werden, wenn alle 13 angeblich existierenden Kristallschädel in einer festgelegten Form aufgestellt werden. Archäologen gehen heute jedoch davon aus, dass diese Schädel nicht im Sonnenreich der Maya entstanden sind, sondern womöglich im rheinland-pfälzischen Idar-Oberstein. Dort wurde der Schädel aus der Sonderausstellung angefertigt, denn mit ihren Werkzeugen aus Stein und Holz, wären die Zentralamerikaner nicht in der Lage gewesen, den harten Bergkristall in diese Form zu bringen.
Dass der Schädel für die Menschen in Amerika ein wichtiges Symbol für Lebenskraft war, zeigt ein Mixteken-Schädel aus Mexiko. Die Mixteken sind ein altes Indianervolk aus Mittelamerika. Viele türkise Mosaik-Steinchen bedecken den Schädel, der mit künstlichen Augen bestückt ist. Weltweit gibt es nur wenige vergleichbare Objekte. Es handelt sich vermutlich um eine rund 1.500 Jahre alte Arbeit. Das Mosaik gibt eine Gesichtsbemalung eines Gottes wieder, der möglicherweise zum Schutz der Bestatteten dienen sollte.
Ein anderer Kult, der vor der Rache des getöteten Feindes bewahren sollte, stammt von verschiedene Jivaro-Gruppen, die im tropischen Regenwald nah der Anden leben. Sie fertigten nach einem strengen Ritual Schrumpfköpfe an. Europäer entdeckten diese Tradition als kurioses Souvenir und brachten sie von ihren Entdeckungsreisen mit. Die hohe Nachfrage führte dazu, dass Nicht-Jivaros Friedhöfe plünderten, um Schrumpfköpfe herzustellen.
Die bekannteste Nutzung von Schädeln in Afrika fand im Vodun-Kult statt, der als Ursprung des Voodoo angesehen wird. Dieser Kult ist keine Religion mit bösen Absichten. Die Priesterinnen oder Priester des Vodun führen bestimmte Rituale durch und fertigen magische Gegenstände an, um Menschen zu helfen, nicht um ihnen zu schaden. Meist handelt es sich um Zauber, die die Gesundheit wieder herstellen sollen. Schädel machen solche Zauber besonders mächtig und wirkungsvoll, aber es gibt viele weitere Zutaten wie Tierknochen, Pflanzen, Symbole, Farben, Spucke und Blut. Die genaue Zusammensetzung des Zaubers bleibt dabei geheim.
Mit Hilfe der Objekte und Rituale werden die Vodun-Geister oder vermittelnde Gottheiten kontaktiert. Diese wiederum haben Kontakt zum Schöpfergott, den die Menschen nicht direkt erreichen können und der im Krankheitsfall die Heilung bringen soll. Der Voodoo-Kult in Südamerika weist starke Parallelen auf, nur dass die Priester dort katholische Heilige kontaktieren, die sie als Vermittler zu Gott verstehen.
Dass in einzelnen afrikanischen Regionen Ahnenschädel und Kopftrophäen eine rituelle Bedeutung hatten, zeigen Aufzeichnungen der Kolonialmächte des 19. Jahrhunderts. Für verschiedene Völker galt das Abschneiden des Kopfes als ein Zeichen des Triumphes über den Gegner. Um den Feinden diese Macht zu demonstrieren, hängten sie die Kopftrophäen an ihre Hausfassaden, betteten sie auf Altäre oder verarbeiteten die Totenschädel zu Musikinstrumenten. Nach der Vorstellung dieser Menschen lebte die Seele des getöteten Feindes im Schädel weiter und galt als Vermittler zwischen Leben und Tod. Seine Macht wurde aber nur durch das Einhalten fester Rituale wirksam.
Der kulturelle Umgang mit Totenschädeln war auch in Asien verbreitet, denn im Hinduismus und Buddhismus spielt das Haupt des Menschen eine wichtige Rolle. Im tibetischen Buddhismus gibt es beispielsweise Gegenstände aus Schädelknochen, die bis heute benutzt werden. Die Doppeltrommel, die sogenannte damaru, wird aus zwei Schädelschalen angefertigt. Für die Herstellung nutzen die Möche nur das Schädeldach eines 16-jährigen Jungen und das eines gleichaltrigen oder vier Jahre jüngeren Mädchens. Nach dem tibetischen Glauben stellt diese Konstellation die Vereinigung der Gegensätze dar. Für die Familie der Verstorbenen gilt es als Ehre, wenn die Schädel ihrer Kinder ausgewählt werden.
Eine große Macht wird auch der Schädelschale eines Hingerichteten oder eines Blitzschlagopfers zugeschrieben. Die sogenannte kapala steht für Tod, Erleuchtung oder auch für die zornige Seite der Götter. Sie wird von den buddhistischen Mönchen als Opfer- oder Bettelschale genutzt.
Eine anders motivierte Schädelverehrung entdeckten Wissenschaftler bei einigen Völkergruppen im Nordosten Indiens. Für den Volksstamm der Naga war die Kopfjagd, die erst kürzlich offiziell aufgegeben wurde, ein wichtiger Bestandteil des religös-gesellschaftlichen Lebens. Die Kopfjagd hat hier einen streng ritualisierten Rahmen und ist kein Gemetzel. Die erbeuteten Köpfe dienten Fruchtbarkeitsriten.
Die Bezeichnung Dayak fasst unterschiedliche Stammesgruppen auf der Insel Borneo zusammen. Die Hauptlebensgrundlage der Völker bildet der Reisanbau, ergänzt durch Viehzucht und Jagd. Der Kopf galt in ihrer Kultur als Zentrum von Lebensenergie und geistigen Kräften. Indem ein Mann eine Kopftrophäe in sein Dorf brachte, führte er diesem neue Lebensenergie zu und gewann Achtung. Auch vor Missernten oder Krankheiten schützten Kopftrophäen. Die Segnung der Reisfelder mit erbeuteten Köpfen galt als Grundlage für eine gute Ernte. Trophäenschädel der Dayak sind häufig mit aufwendigen Schnitzereien verziert. Die traditionelle Kopfjagd verschwand erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Die vielen Inselstaaten Ozeaniens sind nicht nur reich an außergewöhnlicher Naturlandschaft, sondern auch an Kulturen. Für viele Einheimische der verschiedenen Südseeinseln spielt der Kopf eine wichtige Rolle. Das Volk der Tolai fertigte Masken aus den Schädeln bedeutender Verstorbener an. Diese erhielten eine Gesichtsbemalung in Rot und Weiß, die der Bemalung im Leben glich. Noch heute nutzen die Tolai diese Farben um sich vor bösem Zauber zu schützen, der für sie allgegenwärtig ist. Die Masken waren mächtige magische Utensilien, die man nicht mit bloßen Händen berühren durfte. Statt dessen nutzte man einen Haltestab auf der Rückseite. Bei Ritualen wirkte die Macht des Verstorbenen verstärkend durch diese Maske.
Katalog zur Ausstellung: Schädelkult. Kopf und Schädel in der Kulturgeschichte des Menschen
Herausgeber: Alfried Wieczorek, Wilfried Rosendahl
Verlag Schnell & Steiner, Hardcover 25 x 31 cm
Seiten: 388 Preis: 19,90 Euro, ISBN 978-3-7954-2455-8
LWL-Museum für Archäologie / Europaplatz 1 / 44623 Herne www.lwl-landesmuseum-herne.de http://www.schaedelkult.lwl.org
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