Das wichtige Thema der Laufzeitverlängerung für die restlichen Atomkraftwerke in Deutschland wurde im Wahlkampf nicht angesprochen. Auch bei den Gesprächen über die Bildung einer Ampelkoalition war die Frage nach dem Atomausstieg offensichtlich tabu. Doch ohne eigenen Atomstrom wird Deutschland die ambitionierten Klimaziele nicht erreichen. Die Frage ist auch, ob die Verstromung von Braunkohle weiterhin vorrangig sein soll, statt das zu eilig geschnürte Paket für den Atomausstieg in der Öffentlichkeit noch einmal zu diskutieren.
Deutschland steigt in einer Phase endgültig aus der Atomkraft aus, wo diese Technologie international zunehmend gefragt ist. In vielen Staaten erleben Atommeiler eine Renaissance, denn sie wollen damit ihren CO2-Ausstoß reduzieren. Das geht aus einer Untersuchung der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) hervor. Sie korrigiert damit ihre Prognose zum weltweiten Ausbau der nuklearen Produktionskapazitäten nach oben.
Deutschland muss nicht wieder in die Atomwirtschaft einsteigen. Wir sollten lediglich den Beschluß zum Atomausstieg nach der Fukushima-Katastrophe den inzwischen veränderten Rahmenbedingungen anpassen. Deutschland hat die Chance, die verbliebenen sechs modernen Reaktoren schrittweise so lange weiter zu nutzen, bis eine Grundlastversorgung durch erneuerbare Energien sichergestellt ist. Falls Deutschland von Strom-Importen abhängig wird, subventionieren wir den Weiterbetrieb schrottreifer Meiler im Ausland oder fördern dort den Bau neuer AKW. So wird der Atomausstieg geradezu absurd.
Von den ursprünglich 19 in Deutschland kommerziell genutzten Kernkraftwerksblöcken sind aktuell noch sechs am Netz. Nach dem Atomgesetz gelten folgende Restlaufzeiten:
- bis 2021 für Brokdorf, Grohnde, Gundremmingen C
- bis 2022 für Emsland, Isar/Ohu 2, Neckarwestheim 2
Diese AKWs sind 32 und 37 Jahre alt und kaum störanfällig.
Der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Stefan Wolf, hat sich für Deutschlands Rückkehr zur Atomkraft ausgesprochen. „Wir haben in den kommenden Jahren nicht zuletzt wegen der steigenden Elektromobilität einen erhöhten Strombedarf, gleichzeitig steigen wir aus der Kohle aus und kommen mit dem Bau von Windkraftanlagen nicht hinterher”, sagte Wolf der Bild-Zeitung. „Es kann doch nicht sein, dass wir uns völlig abhängig von anderen Ländern machen, wo wir den Atom- und Kohlestrom dann teuer einkaufen”, sagte Wolf weiter. Wir brauchen Atomstrom jetzt – und nicht in vielen Jahren, wenn neue Atomreaktoren im Ausland in Betrieb gehen. Das kann nur durch den befristeten Weiterbetrieb der bestehenden Reaktoren gelingen. Damit ist ein Ausstieg in Einklang mit der Natur möglich. Die Politik muss die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit endlich schließen. Der Weiterbetrieb von Atomstrommeilern in Deutschland wäre vor allem für die energieintensive Stahlindustrie im Ruhrgebiet überlebenswichtig, denn die alternative Gewinnung von ausreichenden Mengen Wasserstoff über Windenergie steckt noch in den Kinderschuhen.
Bei den in Deutschland noch betrieben AKW sind die hohen Kapitalkosten bereits abgeschrieben oder vom Staat durch Entschädigungen ausgeglichen, sodass
beim Weiterbetrieb lediglich die niedrigen Brennstoff-, Reparatur- und Personalkosten entstehen. Durch den befristeten Weiterbetrieb wäre ein deutlich früherer Ausstieg aus der Braunkohle möglich. Über die während der verlängerten Restlaufzeit entstehenden hohen Gewinne könnten die Kosten des früheren Ausstiegs aus der Braunkohle finanziert werden. Aber auch eine Entlastung der Bürger durch die Endlagerung der Brennstäbe ließe sich so bezahlen.
Die Krise bei den Gaslieferungen aus Russland verdeutlicht die aktuelle Abhängigkeit. Es verstärkt sich der Eindruck, dass Russland politisch am Gashahn dreht. Nicht ohne Grund ist Europas größter Erdgasspeicher in Rehden (Landkreis Diepholz) aktuell nur zu knapp fünf Prozent gefüllt, obwohl die Heizperiode gerade erst begonnen hat. Dadurch erhöht der Besitzer, die russische Gazprom, den Druck auf die Genehmigung zur Inbetriebnahme von „Nord Stream 2“. Über die künstliche Verknappung und die explosionsartig gestiegenen Gaspreise subventionieren wir den russischen Staatshaushalt.
Die aktuelle Energie-Krise und die Einhaltung der im Pariser Klimaabkommen von 2015 vereinbarten Klimaziele könnten zu einer Renaissance der Atomkraft führen. Zehn EU-Staaten haben der EU-Kommission einen Offenen Brief geschrieben, in dem sie die Kernenergie in höchsten Tönen loben. Es gäbe keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, dass Kernenergie „weniger klimafreundlich ist als andere Energieträger“, schreiben die Vertreter von Frankreich, Bulgarien, Kroatien, der Tschechischen Republik, Finnland, Ungarn, Polen, Rumänien, der Slowakei und Slowenien. Diese Länder fordern, die Atomkraft als „grüne Investition“ anzuerkennen. Die Staaten führen auch an, dass die Nuklearenergie „erheblich zur Unabhängigkeit unserer Energieproduktion beitrage“. In Anbetracht der anhaltenden Energiekrise in Europa plädieren die Länder für die Kernenergie als „wichtige erschwingliche, stabile und unabhängige Energiequelle”, die die Verbraucher in der EU davor schützen könnte, „den Preisschwankungen ausgesetzt zu sein”.
Die Franzosen sind auf der Sonnenseite der Energiegewinnung – zwar nicht, was die Solarenergie betrifft – aber bei der Co2-freien Atomenergie. In Betrieb sind 56 Kernkraftreaktoren. In 2020 hat die französische Regierung deren Laufzeit in einem Handstreich auf 50 Jahre verlängert. Die französische Atomaufsicht fordert allerdings Reparaturen für 32 ältere Reaktoren. Von dem produzierten Strom stammen in Frankreich über 70 Prozent aus der Kernenergie.
In Belgien sind zwei Kernkraftwerke mit sieben Reaktorblöcken in Betrieb:
Standort Block Baujahr Abschaltung Terawatt
Doel 1 1969 2025 128
Doel 2 1971 2025 127
Doel 3 1975 2022 242
Doel 4 1978 2025 246
Tihange 1 1970 2025 285
Tihange 2 1976 2023 244
Tihange 3 1978 2023 258
In Belgien trägt die Kernenergie mit etwa 54 Prozent zur gesamten Stromerzeugung bei.
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