Der Herr der Steine

Eigentlich war Jürgen Prigl mit seinem Leben im eigenen Steinmetz-Atelier in Freiburg durchaus zufrieden. Bis er in einer Fachzeitschrift eine Anzeige las: Das Land NRW suchte den Leiter einer zu gründenden Dombauhütte an der Wiesenkirche in Soest. Jürgen Prigl machte sich auf den Weg nach Westfalen und ist auch 26 Jahre später noch hier …

Dombaumeister Jürgen Prigl zeigt Westfalium-Redakteur Dr. Peter Kracht hoch oben einige Löcher im Helm des Nordturms. Das sind allerdings keine Umweltschäden – sondern Spuren aus dem Zweiten Weltkrieg; Foto: Ralf Litera

Jürgen Prigl lacht, wenn man ihn fragt, wie er von Freiburg ins beschauliche Soest kam: „Es war wirklich so: Ich war vor der Stellenausschreibung vom Jahr 1992 noch nie über die Mainlinie gefahren.“ Der Anblick der Stadt Soest mit ihren Kirchtürmen faszinierte den damals 31-Jährigen auf der Stelle: „Diesen Anblick hatte ich nicht erwartet“, gibt er zu Protokoll – erst recht nicht die besondere, faszinierende Atmosphäre in der Wiesenkirche. Die Weite und die Helligkeit, das unglaubliche Spiel der Farben und des Lichts. Spontan stand für ihn fest: „Hier liegt deine Aufgabe für die nächsten Jahre oder besser Jahrzehnte.“
In der Tat stellte sich schnell heraus, dass er eine Herkulesaufgabe übernommen hatte: Beide Türme der Wiesenkirche wurden seine zweite Heimat, denn die Schäden am Stein waren enorm. Umwelt- und Witte- rungseinflüsse hatten dafür ge- sorgt, dass man mit der bloßen Hand faustgroße Gesteinsbrocken aus den Türmen brechen konnte. Insbesondere der saure Regen setzte und setzt dem Stein arg zu. Durch seinen Schwefelanteil macht er den Grünsandstein morsch und mürbe. Im 19. Jahrhundert entstand dieses Phänomen durch die Industrialisierung. Erstmals wurden im großen Stil fossile schwefelhaltige Brennstoffe verbrannt – zunächst Kohle, später auch Erdöl. Für die Restaurierung musste ein anderer Stein her. Er kommt aus Niedersachsen, aus Obernkirchen, kurz hinter der Landesgrenze im Weserbergland. Es ist jener Stein, aus dem gerade erst die Ringmauer am Kaiser-Wilhelm-Denkmal an der Porta Westfalica aufwendig restauriert worden ist. Dass dieser Stein haltbarer und besser für das Gotteshaus geeignet ist, wussten bereits die Turmbauer des 19. Jahrhunderts: Erst in den Jahren von 1865 bis 1867 wurden die Helme der beiden Türme aus Obernkirchener Sandstein fertiggestellt – an ihnen sind noch keine Verwitterungsschäden festzustellen.
Die Baugeschichte der gotischen Hallenkirche ist heute weithin bekannt: Nach dem Baubeginn 1313 (und damit vor genau 705 Jahren) durch Johannes Schendeler wurde bis zum Jahr 1530 mehr oder weniger inten- siv gebaut. Namentlich sind aus diesem Zeitraum als weitere Baumeister bekannt: Wilhelm von Hamm (ab 1351), Godert van Sunte Druden (ab 1392), Johannes Verlach (1421) sowie Porphyrius von Neuenkirchen (1523–1530), der auch das Osth- ofentor in Soest erbaut hat.
Mancher fragt sich: Wer ist der geniale erste Baumeister Johannes Schendeler? Jener hat nicht nur das eindrucksvolle Bauwerk komplett geplant. Er hat auch die Grenzen des damals Machbaren bis zum Äußersten ausgelotet und ein Bauwerk geschaffen, das in seiner Kühnheit und gleichzeitigen Eleganz und Leichtigkeit im weiten Umkreis einzigartig ist. Jürgen Prigl vermutet, dass der Baumeister seinerzeit von Köln nach Soest kam – und er weiß: „Die Wiesenkirche ist ein Kunstwerk von historischem Rang. Johannes Schendeler entzündete sozusagen die erste Fackel in der Wiesenkirche und das Licht brennt seither im Kirchenraum durch die Zeiten.“

Filigrane Kunst und manchmal “schweres Gerät” – die Steinmetze an der Wiesenkirche leisten ganze Arbeit; Foto: Ralf Litera

Als der Kirchenbau im Jahr 1530 eingestellt wurde, fehlten noch die beiden Türme sowie der Mittelgiebel im Westwerk. Der Grundstein für den Nordturm war am 6. April 1421 gelegt worden. Vollendet wurde die berühmte westfälische Hallenkirche erst im 19. Jahrhundert mit großer Hilfe des preußischen Staates. Der Grundstein für den Weiterbau wurde am 24. Juni 1846 gelegt, der schließlich am 30. September 1875 mit der Fertigstellung des Nordturms abgeschlossen wurde.
Die Sanierung der Türme ist ein zeitaufwändiges Unterfangen: Zuerst wird der äußere marode Grünsandstein aus dem zweischaligen Mauerwerk ausgebaut, was leichter gesagt ist als getan. Im Steinbruch werden derweil neue Obernkirchener Steine ge- brochen, zum großen Teil dort schon vorgefertigt. Die künstlerisch anspruchsvollen Steine mit dem neogotischen Zierrat, etwa Fialen und Kreuzblumen, werden nach wie vor im Winter von den Steinmetzen der Dombauhütte per Hand geschlagen.
Diese Steine werden dann anschließend in die Türme eingebaut. Aus statischen Gründen können immer nur wenige Steine auf einmal ausgetauscht werden. So haben sich die Steinmetze im Laufe eines Vierteljahr- hunderts von Schicht zu Schicht am Südturm bis zum Giebelkranz hochgearbeitet. Am 15. Juni 2012 wurde der letzte morsche Grünsandstein aus dem Südturm ausgebaut, am Nordturm laufen die Arbeiten weiter. „Vier bis fünf Jahre werden die Arbeiten mit Sicherheit noch dauern“, so Jürgen Prigl, „aber nur wenn die Fördermittel weiterhin in der bisherigen Höhe fließen. Mögliche Kürzungen sorgen zwangsläufig für eine Verlängerung der notwendigen Arbeiten.“ Das Land Nordrhein-Westfalen unterhält die Westfälische Dombauhütte und zahlt das Gehalt für den Dombaumeister und die vier Mitarbeiter, die allesamt erfahrene Steinmetzmeister sind. Erwähnt sei noch, dass Jürgen Prigl Ende der 1990er Jahre auch eine Meisterschule für Steinmetze gegründet hat, die mittlerweile europäisches Spitzenniveau erreicht hat. Dass das Geld bei der Restaurierung immer eine wichtige Rolle spielte und spielt, weiß Jürgen Prigl seit langem. Und so bemühte er sich die Jahre hindurch nach besten Kräften und erfolgreich, hochkarätige Politiker nach Soest zu holen und sie von seinem Werk zu begeistern. Sein Plan ging auf: Bundeskanzlerin Angela Merkel war schon hier, Ex-Außenminister Sigmar Gabriel, mehrere NRW-Ministerpräsidenten und Heimatministerin Ina Scharrenbach. Der wichtigste Besuch dürfte 1999 erfolgt sein: Wie aus zuverlässiger Quelle zu erfahren ist, dauerte jenes Treffen zwischen dem Dombaumeister und dem damaligen NRW-Ministerpräsidenten Wolfgang Clement über zweieinhalb Stunden. Am Ende war der Ministerpräsident überzeugt: Dem Gotteshaus muss geholfen werden. Fast 20 Jahre später sind bereits mehr als 22 Millionen Euro in die Rettung der Wiesenkirche geflossen – „und ein Ende ist noch nicht in Sicht“, so Jürgen Prigl.
Ein Ende ist doch in Sicht – zumindest was Jürgen Prigls Engagement in der Wiesenkirche angeht. Mitte nächsten Jahres will er sich zurückziehen, „aber nicht zur Ruhe setzen“, wie er im Juli auf einer Pressekonferenz überraschend bekanntgab. „Alles hat seine Zeit“, fügte er hinzu. Mit seiner Priska Maria wird der in Soest wohnen bleiben und will „einige andere Dinge in Angriff nehmen.“ Die Nachfolge ist bereits geregelt: Diplom-Ingenieur Gunther Rohrberg, ausgewiesener Fachmann der Soester Kirchenlandschaft wird in seine Fußstapfen treten. Die Leitung der Dombauhütte, die Jürgen Prigl bisher auch innehatte, wird Daniel Müller übernehmen und die Soester Kunsthistorikerin Dr. Bärbel Cöppicus-Wex wird künftig das Amt der Geschäftsführerin des Westfälischen Dombauvereins ausfüllen.
So war eigentlich alles geregelt und die Geschichte wäre zu einem guten Ende gekommen – wenn nicht die Wiesenkirche im Juli eine „böse“ Überraschung bereitgehalten hätte: Eher durch Zufall hat die Dombauhütte entdeckt, dass der Übergang von den Seitenwänden zum Dach in 25 Metern Höhe nicht aus Stein gemauert ist, sondern bei einer früheren Restaurierung Anfang der 1930er Jahre aus Beton gearbeitet wurde. „Das war grün angestrichen und mit Kupferblech verkleidet, das konnten wir gar nicht erkennen“, macht Jürgen Prigl deutlich. Erst das Gerüst, das zur Sanierung der Fenster des Südchores dient, machte es möglich, das Mauerwerk näher in Augenschein zu nehmen.

Böse Überraschung: Erst vor einem Monat wurden in 25 Metern Höhe neue Schäden entdeckt. Sie sind auf eine Restaurierung in den frühen 1930er Jahren zurückzuführen; Foto: Ralf Litera

Bei der Sanierung um 1930 glaubte man, Beton sei das Allheilmittel – „doch dieser Beton ist von außerordentlich schlechter Qualität und das Material verträgt sich nicht mit dem Naturstein darunter und darüber.“ Zum Ende seiner Amtszeit hat Dombaumeister Prigl also noch ein schwerwiegendes Problem zu lösen: „Wir können nicht einfach am Nordturm aufhören und am Gesims anfangen“, stellt er klar. Der soll 2022 oder 2023 fertig restauriert sein, dann könnten sich die Fachleute der Dombauhütte um das Gesims kümmern. „Die Arbeiten, die mit größter Sorgfalt und Vorsicht durchgeführt werden müssen, werden sicherlich mehr als ein Jahrzehnt dauern und über eine Million Euro kosten“, schätzt Jürgen Prigl. Der entdeckte Schaden muss auf jeden Fall noch vor dem Winter gesichert werden.
„Ich bin der Diener des Werkes“, hat Jürgen Prigl einmal gesagt. Im Juni 2019 wird er sagen: „Ich bin 27 Jahre lang der Diener des Werkes gewesen.“ Eine Frage brennt ihm natürlich noch unter den Nägeln: Wie viele Steine haben denn der „Diener des Werkes“ und seine „Mannen” bisher an den Türmen der Wie- senkirche ausgetauscht? Da muss Jürgen Prigl doch nachdenken: „3.500 werden es gewesen sein“, sagt er schließlich, um sich gleich zu korrigieren: „Es könnten auch 4.000 Steine gewesen sein.“ Beim Verlassen der Wiesenkirche bleibt er noch einmal stehen und ist sich sicher: „Es waren doch mehr als 4.500 Steine!“ Fürwahr eine historische Dimension!

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