Ruhrtriennale: Die Fremden verstehen

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„Marl – Der Spielort ist von beeindruckender Monstrosität, unwirtlich, intensiv und trist zugleich. Eine gigantische Projektionsfläche für Träume, Visionen und aktuelle Befürchtungen. „Die Fremden“, die neue Musiktheaterproduktion des Festivalintendanten Johan Simons, geht in diesem  Industriedenkmal der ausgehenden Kohle- und Stahlzeit im Ruhrgebiet über die Bühne. Ein einzelner Mensch fühlt sich darin winzig klein und hilflos, die Gruppe von Darstellern agiert darin fast verloren – manchmal sogar angesichts der Dimensionen kaum mehr erkennbar – und die Zuschauer davor auf einer bis zur Hallendecke hochgezogenen Tribüne sind schier überwältigt.

Die Fremden Fotos: JU/Ruhrtriennale 2016

“Die Fremden”: Die fünf Schauspieler wirken in díeser Kathedrale beinahe verloren. Im Hintergrund die zweite Filminstallation von Aernout Mik – Fotos: JU/Ruhrtriennale 2016

Unter einer gigantischen Kuppel von 250 Metern Länge und 50 Meter Breite befindet sich die ehemalige Rohkohlenmischanlage der Zeche Auguste Victoria in Marl. Auf dem Boden Reste von Kohlenstaub, durchmischt von Schottersteinen, dazwischen glitzern und funkeln einzelne Stücke der Steinkohle im Scheinwerferlicht als lägen dort Edelsteine.

Der raumfüllende Rücklader, ein seelenloser Koloss,  lauert inmitten der Szenerie wie ein Roboter, der sich jeden Moment wie von Geisterhand auf seinen Schienen in Bewegung setzen könnte. Mitten im Stück fährt die Maschine im Schneckentempo ans andere Ende der Halle und öffnet damit Meter für Meter in einer Art Zeitlupe von mehr als 15 Minuten den Blick. Scheinwerfer flammen hinter der Maschine auf und machen die Szenerie im gleißenden Gegenlicht aus tausend Sonnen noch unwirklicher. Es sieht aus wie in einem Science-Fiction-Film.

Das Orchester ASO/Schönberg inmitten der Szenerie von "Die Fremden" von Johan Simons

Das Orchester ASKO/ASKO/Schönberg inmitten der Szenerie von “Die Fremden” von Johan Simons

Die Ruhrtriennale hat die Halle in eine Kathedrale der Kultur verwandelt, in der das Musiktheater “Die Fremden” von Johan Simons aufgeführt wird, bevor sie demnächst in eine Dependance des Bergbaumuseums überführt wird. Der Ort ist einer von vier Erfahrungsebenen, die Johan Simons teilweise parallel, teilweise kontrapunktisch entfaltet. Neben der sehr besonderen Lokation und Spielfläche, sind da noch der dramatische Text und das Spiel der Schauspieler, die eigenständige Musik und eine zweiteilige Videoinstallation.

Es ist eine komplexe Inszenierung, die dem Zuschauer einige Geduld und viel Wissen abverlangt. Wer ohne Einführung und ohne eine entsprechende Vorbereitung das Stück verstehen und goutieren will, ist streckenweise überfordert. Trotzdem bleiben zahlreiche Eindrücke und offene Fragen haften und setzen sich gewissermaßen als Widerhaken im Kopf fest.

"Die Fremden" von Johan Simons

“Die Fremden” von Johan Simons

„Die Fremden” basiert auf dem französischen Bestseller-Roman „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung” aus der Feder des algerischen Autors Kamel Daoud. Es ist vor wenigen Jahren in Frankreich erschienen und hat eine heftige Diskussion ausgelöst. Seit diesem Sommer gibt es das Buch auch bei uns in Deutschland. Der Roman ist eine Art Fortschreibung des Weltliteratur-Klassikers „Der Fremde” von Albert Camus, ein Schlüsselwerk des Existenzialismus.

Daoud erzählt die Geschichte des Opfers aus dem Werk von Camus, des namenlosen Arabers. Daoud gibt ihm einen Namen: Moussa. Erzähler der Geschichte von Moussa vor dem Hintergrund der Befreiung von der französischen Herrschaft ist Haroun, dessen Bruder. „Ich dachte immer schon, dass irgendwann ein Algerier eine Antwort darauf schreiben muss, dass da ein Algerier am Strand abgeknallt wird und immer nur ‚ein Araber‘ ist, ohne Geschichte, ohne Namen”, erklärt Autor Daoud das Motiv für seine Arbeit.

Das Orchester wirkt wie ein Ruhepol inmitten der Inszenierung vor einem gigantischen Rücklader in der ehemaligen Kohlenmischanlage der Zeche Auguste Victoria in Marl

Das Orchester wirkt wie ein Ruhepol inmitten der Inszenierung vor einem gigantischen Rücklader in der ehemaligen Kohlenmischanlage der Zeche Auguste Victoria in Marl

Die Textfassung des Stückes stammt von Vasco Bosnisch und Tobias Staab. Regisseur Simons lässt den Erzähler Haroun von fünf Personen darstellen. Besetzt sind die Rollen von Männern und Frauen aus mehreren, europäischen Nationen. Die fünf Schauspieler sind: Pierre Bokma, Benny Claessens, Elsie de Brauw, Risto Kübar und Sandra Hüller.

„Die Fremden” umfasst 30 Szenen. Simons verlangt seinem Publikum einiges ab, munter springt er zwischen Camus und Daoud hin und her – und spiegelt damit auch die Vielschichtigkeit des Daoudschen Romans wider. Simons erscheint Daouds Roman als Einlassung und Kommentar zur gegenwärtigen Flüchtlingskrise, die Europa verändert hat und die deutsche sowie die europäische Gesellschaft zu zerreißen und spalten droht.

Simons wirft vor allem die Frage nach der Perspektive bei der Beurteilung der Fremden auf und setzt sich mit der Frage nach der Identität der Menschen auseinander. Simons fragt: Wer beurteilt wen aus welcher Perspektive? Und wer verurteilt den Fremden mit welchem Recht? Aber auch die immanente Religionskritik im Werk von Daoud ist Simons wichtig.

Dokumentarische Filmschnippsel kommentieren das Geschehen auf der Bühne in "Die Fremden"

Dokumentarische Filmschnippsel kommentieren das Geschehen auf der Bühne in “Die Fremden”

Die Inszenierung ist verschlüsselt, weil sie nur einzelne Passagen unter bestimmten Stichworten herausgreift und keine wirkliche Geschichte erzählt. Als Zuschauer muss man sich seinen eigenen Reim machen und sich zugleich von den anderen Erfahrungsebenen inspirieren lassen. Diese sind wie eine Collage zum Text arrangiert, sie illustrieren und erläutern nicht, sondern haben einen eigenen Anspruch und verlangen volle Aufmerksamkeit. So ist man gezwungen zwischen den Ebenen hin- und herzuspringen. Jeder Zuschauer kommt damit auch zu einem ganz eigenen Text.

Das Orchester ist in einer Lichtinsel inmitten der Szenerie platziert – das wirkt wie ein Ruhepol. Das niederländische Ensemble ASKO/Schönberg unter der Leitung von Reinbert de Leeuw ist trotz einer durchaus kleinen Besetzung sehr gut zu hören. Werke von Mauricio Kagel, György Ligeti fassen die Orientierungslosigkeit und Verzweiflung in Töne. Im Mittelpunkt steht die Komposition „Bouchara” von Claude Vivier, exzellent gesungen von der Sopranistin Katrin Baerts. Doch auch hier entfaltet sich im höchsten Maße Irritation, da der Text in einer reinen Fantasiesprache gesungen wird, deren Sinn sich einem nicht erschließt.

Direkter, verständlicher und eindringlicher wirken da die beiden Filminstallationen des niederländischen Filmkünstlers Aernout Mik. Im ersten Teil gibt es eine Kompilation von Dokumentaraufnahmen aus der Zeit des algerischen Befreiungskrieges. Der Regisseur stellt vor dem Hintergrund von Flucht und Integration damit Fragen nach der kulturellen Identität.

Die Filmaufnahmen in Schwarz-Weiß zeigen wie unmenschlich schon damals die westliche Kolonialmacht Frankreich mit den Menschen umgegangen ist. Die Bilder ähneln sich mit denen aus den aktuellen Nachrichtensendungen und Dokumentationen. Gewalt der Mächtigen gegenüber den Entrechteten, Entwurzelten und Flüchtlingen, woher auch immer diese kommen. Aktuell kommen sie in großer Zahl aus  Afghanistan, Syrien, Iran und dem Irak nach Europa. Diese Fremden wurden verfolgt und werden verfolgt, damals wie heute. Wir wissen, in Deutschland werden viele dieser Flüchtlinge und Asylsuchenden als unerwünschte Eindringlinge behandelt, so als würden diese Menschen uns etwas wegnehmen wollen. Der Grund ihrer teilweise höchst dramatischen und extrem gefährlichen Flucht, Krieg und Verfolgung im eigenen Land werden in ihrer Beurteilung verdrängt oder schlichtweg ausgeblendet.

Szenen, die Aernout Mik im zweiten Teil auf einer großen Leinwand in Farbe zeigt, könnten aus einer aktuellen Notunterkunft für Flüchtlinge stammen. Diese Spielszenen, die wie ein Dokumentarstück daherkommen, sind just in der Halle entstanden, in der jetzt das Theaterstück spielt. Mik sagt über seine Arbeit: „Der gedrehte Film im zweiten Teil rührt an eine der Hauptfragen der Inszenierung: den Wechsel der Perspektive. Weiße, westliche Menschen agieren als Lagerbewohner, während die Polizisten von Menschen mit augenscheinlich anderer Herkunft gespielt werden. Wer ist hier der Fremde?“

Wirklichkeit und Fiktion sind gebrochen. Schnell wird klar: Es sind „normale” Deutsche, die auf Feldbetten liegen, in langen Schlangen vor Registrierungstischen stehen und von ausländisch aussehenden Polizisten bewacht werden. Die Rollen sind vertauscht. Es stellt sich die Frage: Was wäre, wenn diejenigen, die sich aktuell in einem Kulturkampf wähnen, plötzlich für ihr Dasein ausweisen, rechtfertigen und erklären müssten? Was wäre, wenn diejenigen, die nachts heimlich Flüchtlingsheime anstecken auf solchen Pritschen hausen müssten, wie sie derzeit Flüchtlingen bei uns angeboten werden? Kaum zwei Quadratmeter groß, Bett an Bett, über Wochen und Monate ohne nur einen Funken Privatheit, ohne Ruhe und Frieden und vor allem ohne eine erkennbare Perspektive. Fast wünschte man sich, dass diejenigen, die sich da als das „Volk“ gerieren einmal eine solche Erfahrung machen müssten.

Auf die Frage, was denn der Westen aus der Situation und von den Fremden lernen könnte antwortet der Filmregisseur: „Zuerst einmal eine wichtige Erkenntnis – und deswegen zeige ich auch diese historischen Bilder aus der Kolonialzeit: Wir denken bislang, die Anderen seien die Fremden. Aber: Wir teilen eine gemeinsame Geschichte! Wir waren in diesen Ländern und Regionen und haben dort vieles bestimmt. Auch Islam und Christentum haben etwas miteinander zu tun. Die Fremden kommen nicht von außerhalb, sondern wir sind miteinander verbunden.“

Johan Simons erzählt seine Geschichte sehr komplex verwoben und vielschichtig, mitunter nicht mehr nachvollziehbar. Der Sinn des Musikdramas erschließt sich nicht von alleine. Empfehlen muss man den Besuch der etwa 30 Minuten dauernden Einführung in das Stück. Sie erleichtert das Verständnis, weil erst dadurch die unterschiedlichen Ebenen und Bezugspunkte zumindest ansatzweise deutlich werden.

“Die Fremden” gibt weder eine Bestätigung und auch keine Beruhigung – für nichts und niemanden. Irritation und Verunsicherung bilden das Konzept von Johan Simons. Wichtiger noch als Antworten sind ihm die wirklich drängenden Fragen zu stellen. Nach der Fremdheit und den Gründen von Ablehnung, nach der Identität und der Perspektive. Der Boden ist unsicher. Nach der Erfahrung des Stückes sogar noch ein bisschen mehr.

Dennoch ist die Position von Simons unstrittig: In einer Zeit, in der die Rechten und deren wirre Parteigänger mit ihren Parolen, ihrer Verweigerungshaltung und den vermeintliche Lösungen überall zu punkten scheinen, liegen viele ungelöste Fragen weiterhin auf dem Weg zu einer friedlichen Lösung und Integration. Dennoch: Sich verweigern und Grenzen ziehen, Zäune und Mauern errichten, Anschläge auf Flüchtlingseinrichtungen und Flüchtlingen bedeuten, sich der historischen Verantwortung zu verweigern. In diese Wunde legt Simons immer wieder seinen Finger. Denn es gilt die Herausforderung anzunehmen, die uns neben der puren Menschlichkeit und der Nächstenliebe auch unser Grundgesetz und die Flüchtlingskonvention auferlegen – koste es, was es wolle. Und allen Widerständen, Anfeindungen und  Schmähungen zum Trotz. (Jörg Bockow)

Ruhrtriennale 2016

Kultur Ruhr GmbH / Leithestraße 35 / 45886 Gelsenkirchen
Telefon 0209 – 60507100

www.ruhrtriennale.de

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