Majestätsbeleidigung abgeschafft: Ungewöhnlich einvernehmlich hat sich das Bundeskabinett am 15. April 2016 für die Abschaffung von § 103 des Strafgesetzbuches entschieden. Der Passus stellt ausländische Staatoberhäupter, zu denen diplomatische Beziehungen bestehen, unter den besonderen Schutz der Regierung. Die Streichung der Vorschrift ist längst überfällig, denn in einem Rechtsstaat kann es nicht Sache der Regierung sein, Persönlichkeitsrechte zu schützen. Das ist die Aufgabe von Staatsanwaltschaften und Gerichten.
Trotzdem erteilte Bundeskanzlerin Angela Merkel gemäß dem umstrittenen Paragraphen die Ermächtigung, gegen den Satiriker Jan Böhmermann wegen der Beleidigung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ein gerichtliches Strafverfahren zu ermöglichen. Dieser politisch motivierte Spagat wurde von den SPD-Ministern im Kabinett nicht mitgetragen.Der türkische Despot will nach osmanischem Rechtsverständnis um jeden Preis gewährleisten, dass der kompromisslose politische Künstler Böhmermann bestraft wird. Deshalb reichte er parallel zur Bundesregierung beim Amtsgericht Mainz eine persönliche Beleidigungsklage ein. Die gute Nachricht: ZDF-Intendant Thomas Bellut hat dem Fernsehmoderator Jan Böhmermann in der Beleidigungsaffäre die volle rechtliche Unterstützung des Senders mit den Worten zugesagt: „Wir gehen mit ihm durch alle Instanzen.“
Die Unsinnigkeit der Berliner Posse verdeutlicht folgender Vergleich: Das saudi-arabische Königshaus würde die Abschaffung der Todesstrafe als nicht mehr zeitgemäß ankündigen, um am nächsten Tag schnell noch zahlreiche Oppositionelle hinrichten zu lassen.
Der umstrittene § 103 zur “Majestätsbeleidigung” kam 1871 ins Strafgesetzbuch. Initiator war Kaiser Wilhelm II, der darüber zahllose Kritiker im Land mundtot machen ließ. Außenpolitisch war ihm die Strafandrohung wichtig, denn die ungesühnte Beleidigung eines Monarchen hätte in der damaligen Zeit leicht einen Krieg auslösen können.
Wie sich die Bilder gleichen: Innenpolitisch hat Erdogan inzwischen Justiz und Verwaltung mit Claqueuren besetzt, die seinen Willen in allen Fällen als rechtmäßig abnicken und jede Kritik an seiner Person strafrechtlich verfolgen.
Nach dem als ungeheuerlich empfundenen Angriff auf seine Autorität durch den Verlust der Mehrheit im Parlament ließ er aufrüsten. Auslöser war die fehlende Mehrheit nach dem Einzug der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in die Nationalversammlung. Um sich vor Neuwahlen aufgrund der gescheiterten Suche eines Koalitionspartners als Friedensstifter präsentieren zu können, ließ er nach jahrelanger friedlicher Koexistenz mit den Kurden in der Türkei zahlreiche Oppositionelle verhaften und die kurdischen Gebiete in Syrien bombardieren. Für ihn persönlich zahlte sich der Handstreich aus, doch die vorsätzlich herbeigeführte prekäre Sicherheitslage im Land ließ den Tourismus einbrechen – mit fatalen Folgen für die Wirtschaft.
Ähnliche Klagen wegen “Majestätsbeleidigung” von Schah Reza Pahlavi und Ayatollah Khomeini scheiterten seinerzeit vor deutschen Gerichten. Sollte sich für den starrsinnigen, von sich eingenommenen und rachsüchtigen Erdogan ebenfalls ein negatives Urteil abzeichnen, wird er nicht zögern, von der Bundeskanzlerin den Austausch der Richter gegen linientreue Vasallen zu fordern. Mit solchen Rochaden hat Ayatollah Erdogan im eigenen Land beste Erfahrungen gemacht.
Bleibt zu hoffen, dass der Flüchtlingsdeal zwischen der EU und Erdogan nicht zur beschleunigten Mitgliedschaft der Türkei in der Gemeinschaft führt. Die braucht Zeit, denn vor der angestrebten Aufnahme müssten nach den neuerlichen Eskapaden die Begriffe rechtstaatlich und demokratisch neu definiert werden. Es darf keine stillschweigende Akzeptanz geben, wenn demokratische Rechte eingeschränkt, Menschen getötet werden und Gewaltenteilung unterminiert wird. Es sollte nicht wundern, wenn Erdogan die von der EU geforderten Visaerleichterungen nur nutzt, um sich missliebiger Kurden zu entledigen.
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