Sasha Waltz zum Jubiläum im Pumpenhaus: Eine schönere Überraschung zum 40. Geburtstag hätte man sich kaum einfallen lassen können: Mit dem Tanzklassiker „Travelogue I – Twenty to eight“ von Sasha Waltz knüpft das Theater im Pumpenhaus an seine Anfänge an und landet zum Geburtstag einmal wieder einen Coup. Das hätte dem im Januar 2023 verstorbenen Gründer und langjährigen Leiter des Pumpenhauses Ludger Schnieder sehr gefallen.

„Travelogue I – Twenty to eight“ von Sasha Waltz und Gästen zum Jubiläum im Theater Pumpenhaus – Foto Sebastian Bolesch
Vor der wundervollen Kulisse des Pumpenhauses waren viele Gäste am vergangenen Samstag bei herrlichem Wetter zu einer kleinen Feierstunde zusammengekommen. Man erinnerte sich gemeinsam an die Gründung, eine Reihe von markanten Stationen und die vielen spektakulären Produktionen, die es ohne die zahlreichen Förderer und Unterstützer aus Politik, Kultur und Stadtgesellschaft freilich nicht gegeben hätte.
Das Jubiläum ist auch verknüpft mit einem großen Dank an alle die, die das Projekt angestoßen und vorangebracht haben. Leiter Till Wyler von Ballmoos warnte aber zugleich in seiner Schlussbetrachtung vor den drohenden Kürzungen der Landesförderung. (Die sich nur wenige Tage danach tatsächlich abzuzeichnen scheinen und die Existenz des Pumpenhauses und vieler anderer Träger der Freien Szene grundsätzlich in Frage stellt.)
Die Laudatoren waren selbstredend die aktuellen Leiter des Theater im Pumpenhaus, Randi Günnemann & Till Wyler von Ballmoos, gemeinsam mit Markus Lewe, Oberbürgermeister der Stadt Münster, Prof. Dr. Dr. Thomas Sternberg, Präsident der Kunststiftung NRW und Dr. Robert Zeidler, Vorstand der Stiftung der Sparkasse Münsterland Ost.
Sternberg erinnerte in seinem historisch angelegten Rückblick an all jene Unterstützer, die mit an der Wiege des Pumpenhauses gestanden haben. Allen voran: Die langjährige Kommunalpolitikerin und Bürgermeisterin Hildegard Graf (CDU) und an den ehemaligen Kulturdezernenten Hermann Janssen (CDU).

„Travelogue I – Twenty to eight“ von Sasha Waltz und Gästen zum Jubiläum im Theater Pumpenhaus – Foto Sebastian Bolesch
Höhepunkt und mit großer Spannung erwartet: Die Wiederaufführung von Sasha Waltz‘ Tanztheater aus dem Jahr 1993. Mit „Travelogue I – Twenty to eight“ gründete die Choreographin Sasha Waltz 1993 gemeinsam mit Jochen Sandig die Tanzkompanie Sasha Waltz & Guests. Das Stück ist der Auftakt zur Travelogue-Trilogie, die in den Folgejahren entstand und den weltweiten Erfolg der Compagnie begründete.
Nur einen Monat nach der Uraufführung im September 1993 war diese Arbeit schon in Münster zu erleben. Anlässlich des 40. Jubiläums kehrt Sasha Waltz in das Theater im Pumpenhaus zurück. Mit einer neuen Generation von Tänzerinnen und Tänzern an ihrer Seite, beweist die Choreographin, dass diese Inszenierung auch nach über drei Jahrzehnten nichts an Relevanz verloren hat. Mit pointiertem Witz offenbart sich der Weg zum menschlichen Miteinander damals wie heute in spielerischen sowie explosiven Begegnungen.
„Travelogue I – Twenty to eight“ zeigt wundervoll choreographiert Szenen aus dem Zusammenleben einer Wohngemeinschaft. Drei Frauen und zwei Männer hausen in einer spärlich möblierten Wohnung und einigen sich nur punktuell auf Gemeinsames. Zwischen gähnender Langweile und erotischen Spannungen entwickeln sich ein Potpourri von unterschiedlichen Beziehungen sowie kleinen und großen Konflikten. Das Stück entfaltet einen surreal verschobenen Alltag: Die innovative Bewegungssprache und die Interaktionen mit eigensinnigen Alltagsgegenständen sorgten damals wie heute für Begeisterung.
Unvergesslich: Der Tanz um den Kühlschrank – mal Podium, Sportgerät und Hochsitz, mal Begegnungsstätte und Faustpfand im Streit. Da fliegen mitunter die Fetzen und krachen im Takt mit ohrenbetäubendem Lärm die Türen, mal auf, mal zu. Es wird geneckt und gebalgt, verführt und gewaltsam überwältigt. Jeder der einzelnen Szenen lässt sich übertragen auf das menschliche Zusammenleben.
Ein großer Esstisch, sechs Stühle und ein Kühlschrank – nur spärlich gefüllt mit einem nackten Hähnchen als einzigem Vorrat und sechs Flaschen Wein als geistige Nahrung. Einer der jungen Männer bemächtigt sich eines Brotlaibes, der eigentlich für alle gedacht war. Im Nullkommanix hat er sich das Innere des Brotes einverleibt und stopft sich den Mund so voll, dass er tatsächlich nichts mehr hinunterbekommt. Die anderen der WG gehen bis auf ein paar Brot-Krumen leer aus. Eine sinnfällig Parabel auf den menschlichen Egoismus.
Im letzten Drittel des Stückes wird darüber hinaus ein Klappbett aus der Wand aufgeschlagen, in dem einer der Protagonisten eine heillose, fast wahnsinnige Choreographie über Schlaflosigkeit, Zweifel und Paranoia entfaltet. Das ist teilweise bizarr, comicartig und dabei bei allem Slapstick umwerfend komisch. Der dritte Teil der Choreographie endet in einer wilden und überdrehten Jagd, die vom Rhythmus und den immer stärker werdenden Bässen zu einem furiosen Ende führt.
Die ausdrucksstarke Bewegungssprache lässt Raum für Abstraktion. Einfache Ereignisse des täglichen Lebens mit komischen Wendepunkten bilden den Kontrast zu dramatischen und emotionsgeladenen Teilen. Mit Humor, Aggressivität und Sinnlichkeit zeichnet Sasha Waltz ein Sittenbild der Gegenwart, das bis heute nichts an Brisanz und Relevanz eingebüßt hat: ein Tanzklassiker.
Übrigens wird Sasha Waltz am 22. Mai in Hamburg mit dem Helmut-Schmidt-Zukunftspreis ausgezeichnet. Die Jury würdigt Waltz‘ innovative künstlerische Arbeit und ihr demokratisches Engagement: „In ihrer Kunst stellt Sasha Waltz den Anfeindungen gegen die Demokratie eine Suche nach Empathie und Mitmenschlichkeit entgegen.“ JB
Speak Your Mind