Sandra Silbernagel hantiert am liebsten mit großen Brocken. Je schwerer desto besser. Neben einem 52 Tonnen schweren Findling machen sich ihre 56 Kilo Körpergewicht geradezu verloren, schmächtig und sehr verletzlich aus. Die Künstlerin Sandra Silbernagel aus Münster bearbeitet und versetzt Steine. Die Granitbrocken sind Boten aus der Urzeit der Erde, viele Millionen Jahre alt. An ihren neuen Standorten werden sie als Fremdkörper wahrgenommen. Sie erzeugen überraschende Wirkungen.
Die Spannung überträgt sich auf den Betrachter. Sie ist voller Magie. Die Wahrnehmung schwankt zwischen Ehrfurcht und Staunen. Der Kontrast könnte größer nicht sein: Hier ein Millionen Jahre alter 26 Tonnen schwerer Stein aus einem Steinbruch in der Nähe von Passau, dort ein neues, modernes Bürogebäude, dessen Nutzen durch die Architektur im Vordergrund steht.
Die Diorit-Skulptur für den Landwirtschaftsverlag in Münster-Hiltrup war wie ein Paukenschlag. Weit über Münster und die Region hinaus. Seither gehört Sandra Silbernagel zur ersten Riege der zeitgenössischen Bildhauer in Deutschland. Dabei versteht sie sich selber gar nicht als Bilderhauerin. „Ich nutze einen Stein ja nicht als Material, dem ich eine ausgedachte Form gebe, in dem ich ihn mit Hammer und Meißel traktiere, ich erhalte seine Gestalt“, sagt sie. „Deswegen verstehe ich mich als eine Steinsetzerin“, lacht sie.
An der zweiteiligen Skulptur in Münster-Hiltrup kommt, seit sie 2007 aufgestellt wurde, niemand mehr vorbei. Für Besucher ist sie ein Blickfang, für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verlages jeden Tag aufs Neue ein Rätsel. Bewusst oder unbewusst entfaltet die Skulptur ihre besondere Wirkung.
„Der erste Impuls ist Überraschung“, weiß die Künstlerin und ein verschmitztes Lächeln huscht über ihr Gesicht. „Jeder Besucher stolpert über das Steingebilde und nimmt wahr, dass der Koloss eigentlich nicht dorthin gehört und fragt sich wie er dorthin verbracht worden ist.“ Diese Irritation sieht sie als den Schlüssel für die Auseinandersetzung mit ihrer Arbeit. „Jeder Stein birgt ein Kraftfeld, das man vielleicht spüren aber nicht entschlüsseln, schon gar nicht verstehen kann“, sagt die Künstlerin.
Für dieses Projekt hat Sandra Silbernagel den von ihr in einem Steinbruch ausgewählten Stein in einem Steinwerk in Süddeutschland zersägen und in der Mitte einen Kubus herausschneiden lassen. Dieser Eingriff war genau kalkuliert. Die Proportionen lassen keinen Zweifel zu. Die Künstlerin weiß genau, was sie tut.
Mit ihrer künstlerischen Intuition hat sie die Vorgaben gemacht. Anhand eines Modells hat sie den Eingriff minutiös geplant und sich vorab bei ihren Auftraggebern vergewissert. Durch die Bearbeitung wird der Stein als Naturmonument verändert und mit geometrischen Eingriffen zu einem abstrakten Kunstwerk.
„Ich zerstöre nicht die ursprüngliche Form, die einen an eine überdimensionierte Kartoffelknolle erinnert, sondern hebe sie hervor, indem ist sie zerschneide, poliere und geometrische Teile entnehme“, sagt die Künstlerin. Abstraktion und Naturform bilden ein Spannungsverhältnis.
Der Brocken mit dem überraschenden Ein- und Ausblick steht vor dem Gebäude. Das entnommene Herzstück steht im Inneren des Bürogebäudes. Das Fenster in dem Stein hat eine magische Wirkung. Es lädt dazu ein, einen neugierigen Blick in das Innere der Erdgeschichte zu wagen. Der entnommene Kubus im Gebäude selbst setzt diese subjektive Annäherung fort. Da gleitet eben nicht nur der Blick über den Stein, sondern da werden die Oberflächen, Strukturen und nicht zuletzt die Temperatur ertastet. Die Kunst wird zu einem sinnlichen Erlebnis und zu einer lebendigen Auseinandersetzung mit unserer Urgeschichte.
Jan Hoet, der vor Jahren verstorbene Chef der neunten Documenta schrieb über die Skulptur: „In Sandra Silbernagels Arbeit ist nicht nur die Geschichte der Bildhauerei enthalten. Sie konfrontiert uns auch mit der Gegenwart von Geschichte. In Silbernagels Skulptur aus einem über 300 Millionen Jahre alten Dolorit treffen zugleich tiefere Schichten aufeinander: die Kultur des Menschen, die mit dem Faustkeil begann und die Geschichte der Erde, die für den Menschen immer auch eine Metapher bildet, sei es als Schatzhaus, als Mutter Erde oder als postmodernen ‚Weltinnenraum‘ wie Peter Sloterdijk es prägnant formuliert hat.“
Für die Künstlerin beginnt ein künstlerisches Projekt jedes Mal im Steinbruch. Sie ist viel unterwegs, um sich in Frankreich, Italien und Deutschland nach geeigneten Objekten umzuschauen. Vorzugsweise streift sie durch die Steinbrüche an der Bayerischen Waldkette. In der Nähe von Passau wird sie meistens fündig.
Die besonderen Brocken werden im Steinbruch mit schwerem Gerät Beiseite geschafft. Dort warten Findlinge auf Leute wie Sandra Silbernagel. „Meine Entscheidung gründet sich auf meinem Bauchgefühl“, erzählt die Künstlerin.
Nach ein, zwei Tagen weiß sie, mit welchem Stück sie weiterarbeiten möchte. Dann wird der Stein herausgehoben und auf einen separaten Platz positioniert. Die einzigartige Farbe und besondere Strukturen, die Form, Adern und sichtbare Einlagerungen werden begutachtet. „Dabei hilft mir Alois, der mit seiner jahrzehntelangen Erfahrung als Meister im Steinbruch genau sagen kann, wie sich der Stein verhalten wird, wie und wo man ihn bearbeiten, wie man ihn stellen und schließlich auch transportieren kann“, erklärt Sandra Silbernagel über den Start des spannenden Arbeitsprozesses.
Bevor es mit schweren Hubwerkzeugen, einem Kran und Tiefladern ins Steinwerk geht, nehmen die Auftraggeber den ausgesuchten Findling in Augenschein und entscheiden. Bis zu 40 Arbeiter sind von Anfang bis zum Ende mit dem einen Stein im Steinbruch und Steinwerk beteiligt.
Im Steinwerk werden mit Diamantseilen die Steine nach den Vorgaben der Künstlerin zerteilt. Dieser Prozess dauert meist zwei bis drei Tage und Nächte. „Die Steine leisten großen Widerstand“, lacht Silbernagel. Beim Schneiden fasziniert die Künstlerin das sinnliche Erlebnis: „Wenn das Diamantseil sich mit ganz viel Wasser durch den Stein frisst, macht das viel Lärm und es entfaltet sich ein ganz bestimmter Geruch.“
Um die einzelnen Teile zuerst von einen abzuheben und später wieder zusammenfügen zu können, müssen Anker aus Stahl angebracht werden, an denen der Kran seinen Haken ansetzen kann. Jedes Hochheben und Absetzen ist Millimeterarbeit. „Ohne die Erfahrung des Meisters wäre das gar nicht machbar“, bewundert die Künstlerin vor allem „ihren Alois“, der die Steine genau ausmisst und anschließend festlegt, wo ein Anker gesetzt werden muss. „Der Stein wird die ganze Zeit wie ein rohes Ei behandelt“, berichtet die Künstlerin. Eine falsche Bewegung und der Stein bricht entzwei oder Teile splittern ab.
Wenn der Stein transportiert wird, dann ist das eine logistische Herausforderung. Alleine einen 52 Tonnen schweren Brocken aus dem Steinbruch in das nur einige Kilometer weit entfernte Steinwerk zu bringen, ist kompliziert und anspruchsvoll. „Die Polizei musste damals dafür die Straße sperren, weil wir als Schwertransport mit dem Felsbrocken weit über die Fahrspur hinausragten und wir sehr vorsichtig fahren mussten“, erzählt Silbernagel. „Aber ich kann da auf die große Erfahrung der Mitarbeiter und Transporteure vertrauen.“
Auch wenn die großen Projekte mit tonnenschweren Steinen vor Ort im Steinbruch bearbeitet werden, hat die Künstlerin ein eigenes Atelier. In der Nähe des bekannten Ausflugslokals Heidekrug in den Münsteraner Rieselfeldern kann sie sich in eingeräumiges und lichtdurchflutetes Atelier zurückziehen. Der Blick schweift raus ins Grüne. Sie kann Vögel und Eichhörnchen beobachten. „Ich liebe diese Ruhe und Abgeschiedenheit“, sagt sie. „Die Nähe zur Natur ist für mich eine wichtige Kraftquelle.“ Hier werden Projekte konzipiert und entstehen Vorstudien und Modelle aus Stein. Sandra Silbernagel kann inzwischen auf zehn Großprojekte und viele mittlere Skulpturen zurückblicken. Das Interesse an ihrer Arbeit wird mit jeder aufgestellten Skulptur immer größer.
Inzwischen haben kleinere bis zu 20 Zentimeter große Steine ihre Liebhaber gefunden. Dabei werden kartoffelförmige Flusssteine mit einer Steinsäge zersägt und entnommene Würfel oder Kuben durch farbige Glasscheiben ersetzt. „Meine Kunden sind von diesen Formen sehr angetan“, berichtet die Künstlerin. Sandra Silbernagel hat eine Auswahl dieser Arbeiten schon in einer Galerie in New York präsentiert und das mit großem Erfolg.
Die Künstlerin lebt und arbeitet in Münster. Geboren wurde sie 1973 in Fulda, aufgewachsen und zur Schule gegangen ist sie in Ochtrup im Münsterland. Hier wurde ihr Liebe zu Steinen erweckt.
Am Anfang hatte sie ein besonderes Faible für Marmor. Nach einer Projektarbeit, die sie in verschiedene Steinbrüche führte, erwachte ihr Wunsch bildende Künstlerin zu werden. Mit diesem Ziel studierte sie ab 1998 an der Kunsthochschule, Alanus Hochschule Bonn. „Während meines Studiums an der Kunsthochschule kam ich zum Schwerpunkt Bildhauerei und zum Stein. Wir arbeiteten damals direkt in einem Steinbruch in Norwegen. Das hat mich sehr fasziniert“, erinnert sie sich.
In ihrem Studium orientierte sie sich zuerst in Richtung Kunsttherapie, musste dann aber erkennen, dass sie sich weder zur therapeutischen Arbeit noch zur Kunstlehrerin in der Schule berufen fühlte. „Ja, unter dem Aspekt, regelmäßig Geld zu verdienen, wäre das eigentlich die richtige Entscheidung gewesen“, blickt die Künstlerin zurück. „Heute bin ich froh über meine Entscheidung.“ Eine Assistenz bei dem renommierten Bildhauer Ulrich Rückriem brachte für sie die Wende, weil sie plötzlich wusste, was sie eigentlich wollte. Der bekannte Bildhauer bestärkte sie in ihrer Entscheidung.
Sandra Silbernagel ist in Münster und weit darüber hinaus auch durch ihr Engagement für den Ankauf des Brunnens von Nicole Eisenman „Sketch for a fountain“ bekannt geworden. Der Brunnen, der ursprünglich für 100 Tage während der Skulpturen und Projekte 2017 in Münster gezeigt worden war, ist nach einem dreijährigen Prozess, Spendenaktionen und vielen Verhandlungen mit Geldgebern und Sponsoren vor einem Jahr an der Promenade in Münster wieder errichtet worden und ist seither ein beliebter Anlaufpunkt für Münsteraner und viele Touristen. Inzwischen gehört der Brunnen zu den sehenswerten touristischen Highlights der Stadt.
Sandra Silbernagel hat bei vielen Ausstellungen mitgewirkt und eigene Beiträge beigesteuert. (Jörg Bockow)
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