Assessment-Center gelten in der Wirtschaft als zeitgemäße Einrichtungen zur Auswahl fähiger Ein- und Aufsteiger. Dazu werden die Aspiranten unter geübter Moderation verbal aufeinander losgelassen. Punkte gibt‘s für Durchsetzungsfähigkeit, Dynamik und Gruppenloyalität.
Ähnlich militant ist es vermutlich in der Linguisten-Kommission zugegangen, die durch mühsame Kleinarbeit die Zahl der Rechtschreibregeln von 212 auf 112 reduzierte. Durchgesetzt haben sich bei dem Gerangel die Gemäßigten – denn was herauskam, ist allenfalls mäßig.
Die Duden-Connection aus den vier deutschsprachigen Staaten (nach der Wiedervereinigung nur noch drei) haben das Ziel der Alltagstauglichkeit gründlich verfehlt. Damit erwiesen sich die Ängste und Befürchtungen von Lehrern und Lesern als begründet.
Lediglich Analphabeten und Legastheniker dürfen aufatmen, denn an ihrer Schreibweise hat sich nichts geändert. Ganz im Gegensatz zu den Liebhabern karamellisierter Prinzessbohnen, die jetzt unter dem Dopplereffekt leiden. Wer heute schon nicht weiß, wann man daß mit “ß” schreibt, dürfte auch mit der neuen Dass-Schreibung Probleme bekommen. Im Grunde möchten die schriftgelehrten Reformatoren den Buchstaben “ß” im Handstreich aus unserem Schriftbild tilgen. Doch das wäre gerade so, als würden reformwütige Franzosen die Akzente streichen, die der französischen Schrift und Sprache ihren unverwechselbaren Charakter geben. Was bei unseren Nachbarn völlig unvorstellbar ist, wurde bei uns Realität. Doch der Versuch ist nicht vollständig gelungen. Mancher wird sich fragen, warum sich jetzt der Scheißdreck orthographisch vom Fliegenschiss unterscheiden soll.
Die Emanzen unter den Rechtschreibreformern kämpfen für einen Regelverstoß ganz besonderer Art. In einem Akt der Barbarei streiten sie um ein Binnen-I im Wort. Nach ihren Vorstellungen gibt es aller Wortlogik zum Trotz künftig MitarbeiterInnen, LehrerInnen oder InnenarchitektInnen. Die deutsche Straßenverkehrsordnung ist da schon weiter. Dort gib es keine Radfahrer und Fußgänger mehr, sondern nur noch „Rad-Fahrende“ und „zu Fuß-Gehende“.
Geradezu bescheuert ist die Verhunzung der Schreibweise durch das Gendersternchen. Es soll den Leser*innen die Vorstellung vom dritten Geschlecht bildlich verdeutlichen. In Stellenanzeigen könnte es laut DER SPIEGEL dann gendergerecht heißen: „Der/die/? neue Mitarbeiter*in in unserem Unternehmen sollte eine Ausbildung zum/r/? Kfz-Mechaniker*in abgeschlossen haben.“ In linkem Gehorsam genderte der rot-rot-grüne Senat in Berlin bereits den Koalitionsvertrag mit Sternchen. Dagegen zeigt die Einführung des Begriffs Studierende an den Universitäten, dass es auch ohne sprachliche Verrenkungen geht.
Die größere (Regel-)Freiheit macht die deutsche Rechtschreibung aber kaum leichter, sondern verlangt nach wie vor eine gewisse orthographische Involviertheit. Erst ein Vergleich mit dem Englischen macht deutlich, was man den Deutschen, Österreichern und Schweizern an Vereinfachungen vorenthalten hat.
Eigentlich hatte ich mir von der Rechtschreibreform versprochen, dass künftig jeder Normalbürger die Worte Matratze oder Akquisition nicht nur benutzen, sondern auch richtig schreiben kann. Doch das Bedauerliche an den Fremdwörtern ist, dass Ausländer sie nach der orthographischen Eindeutschung nicht wiedererkennen (chic = schick) und die Deutschen sie häufig nur verbal korrekt benutzen (charmant = scharmant).
Ich bin fest davon überzeugt, dass wir trotz verspäteter Dichterschelte die neuen etymologischen Regeln mit deutscher Gründlichkeit präzise umsetzen werden. Dazu bietet der Software-Riese Microsoft großzügige Hilfe an, denn er verschickt seit November 1996 aktualisierte Rechtschreibprüfung kostenlos per Internet.
Die Wortzerklüfter haben die Chance genutzt, um die alte Trenndiät durch sprachkonforme Trennungsmöglichkeiten zu ergänzen. Ziel der neuen Trennstrichflexibilität ist es nicht, Worte zu spalten, sondern sprachgerecht zusammenzuhalten. Die Substantive 0-pel, l-dee sind zwar phonetisch korrekt getrennt, sie sehen allerdings nicht schön aus. Auch sollte uns nicht gleichgültig sein, dass man „schwer behindert” auseinander und „schwerstbehindert” zusammenschreiben soll.
Mit der Rechtschreibung ist es ähnlich wie mit des Kaisers neuen Kleidern im Märchen: Was die Deutsche Gesellschaft für Sprache als Fortschritt rühmt, sehen andere entweder gar nicht oder nicht so wie die Gesellschaft. Vielleicht hätte man sich die Vietnamesen zum Vorbild nehmen sollen, denn die kennen nur einsilbige Wörter wie Lang Zu. Diese Schreibweise wurde bereits ins Mafia-Deutsch übernommen. Aus Rechtschreibreform wäre dann die Recht Schreib Re Form geworden.
Durch einen Vergleich der neuen Wörterbücher wird das Stückwerk der Reform sichtbar, denn überall wurden Inkonsequenzen deutlich. Doch wie kann man sich davon fernhalten – oder fern halten, wie es in einem Teil der missglückten Regelwerke heißt. Ungeachtet dessen landet die neue Schreibweise geradewegs in den Schulbüchern – trotz deutlich rückläufiger Erwartungen der einst glanzvollen Reformversprechen. Auch mit Blindgängern muss gerechnet werden, denn einige Verlage haben beschlossen, dass die von ihnen betreuten Schriftsteller nur in der traditionellen Schreibweise gedruckt werden. Hoch lebe das duale System.
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