Der Kiepenkerl bloggt: Freies Schreiben

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Wilhelm Busch hat vermutlich das fortschreitende Schleifen von Bildungsstandards an deutschen Schulen geahnt, als er dichtete:

Lämpel

Lämpel“ von Wilhelm BuschBusch Gesamtausgabe in vier Bänden. Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons.

 

 

 

Also lautet ein Beschluss,
dass der Mensch was lernen muss.
Nicht allein das Abc
bringt den Menschen in die Höh’,
nicht allein im Schreiben, Lesen
übt sich ein vernünftig’ Wesen;
aber auch mit Rechnungssachen
soll der Mensch sich Mühe machen.

 

 

 

Auf die freie Liebe der 68er-Generation folgte das freie Schreiben. Die Spontis waren davon überzeugt, dass Rechtschreibkritik auch Gesellschaftskritik beinhaltet. Wer schon in jungen Jahren glaubt, der Dativ sei dem Genitiv sein Tod, ist auch als Erwachsener nicht zu einer nachhaltigen Bildungsreform bereit. Wen wundert’s, dass viele Etablierte in der Rechtschreibung heute unsicher sind. Schließlich kamen die ehemaligen Mitglieder der linksgerichteten Studenten- und Bürgerbewegungen in die Jahre.

Das Problem blieb lange unter der Decke, denn mancher, der eine Führungsposition ergattert hatte, delegierte die Rechtschreibung an seine Sekretärin. Doch mit dem Siegeszug des Computers in den Unternehmen starben die Schreibkräfte aus – Manager sind auf die Kraft der eigenen Schreibe und auf Word angewiesen. Damit gilt Rechtschreibung wieder als Ausdruck von Bildung.

Ich selbst versuche, mich streng an die Regeln der Grammatik und der Orthografie zu halten. Doch trotz eines Rechtschreibprogramms sind Fehler nahezu garantiert. Deshalb lautet mein Grundsatz für wichtige Texte: Vor dem Schreiben denken – nach dem Schreiben prüfen und im Zweifel einen alten Fuchs drüberschauen lassen.

Nach dem Marsch der 68er durch die Institutionen wächst im Schulsystem eine Generation heran, die nach Gehör „schreipt“ und den Duden ignoriert. Das Ohr entscheidet, was auf’s Papier kommt. Das nennt sich Orthografie der Vielfalt. In der Alltagskommunikation mit vertrauten Personen ist das okay. Dort kann eine gewisse Fehlertoleranz unterstellt werden. Doch auch in der elektronischen Geschäftskorrespondenz mangelt es an Orthografiekenntnissen und Sprachgefühl. Korrekturlesen gilt generell als Zeitverschwendung.

Ein Grund für zahlreiche Fehler sind die häufigen Änderungen der Rechtschreibregeln. Schade, dass die linguistischen Besserwisser in ihrem Reformeifer dem Volk dabei nicht auf die Feder schauen. Turbo in der Schule und am Smartphone besorgen den Rest. Der Laie staunt, dass sich angesichts der schulischen Oberflächlichkeiten die Einser-Noten auf den Zeugnissen wie die Karnickel vermehren. Trotzdem dürfen wir den Sand nicht länger in den Kopf stecken. Sonst wird die Schule zur Brutstätte für die orthografische Verdummung ganzer Generationen!

In Büchern und anderen professionellen Texten hält sich die Volksverblödung in Grenzen. Doch Gedrucktes interessiert junge Leute kaum. Sie starren in jeder freien Minute auf den Bildschirm ihres PCs oder Handys und sind mit WhatsApp, Twitter, Facebook oder Computerspielen vollauf beschäftigt. Viele glauben offensichtlich, dass Bildung von Bildschirm kommt und nicht von Schule oder Schulung.

Unternehmen beklagen, dass die Pädagogik der Vielfalt bereits den Mathematik- und Physik-unterricht erfasst hat. Wird die Abschaffung von Bildungsstandards in diesen Bereichen nicht gestoppt, gerät der Industriestandort Deutschland in Gefahr.

Das orthografische Analphabetentum ist nicht der Kern bildungsbewusster Besorgnis, sondern nur ihr sinnfälliger erster Ausdruck. Die Grundsünden der vereinfachten Ausgangsschrift oder phonetischen Orthografie treten zurück hinter die für die betroffenen Kinder desaströsen Bestrebungen, alle Schüler gemeinsam lernen zu lassen. Doch individuelle Bildung lässt sich nicht durch ein pädagogisches Dampfbad erreichen.

 

 

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