Der Kiepenkerl: Der Jahresabschluss als Sinfonie

Print Friendly, PDF & Email

Wer kennt sie nicht, die langweiligen Hauptversammlungen eines Schützen-, Heimat-, Gesang- oder Taubenzüchter-Vereins? Das Ätzendste an den Pflichtübungen eines Vereins sind der Kassenbericht und der Kassenprüfungsbericht.

Diese Feststellung galt beileibe nicht für die Mitgliederversammlung der Freunde und Förderer des Sinfonieorchesters Münster e. V. am 21. September 2014.

Als gewiefter Wirtschaftsprüfer beschäftigte sich Dr. Friedrich Helmert in humorvoller Weise nicht nur mit dem Trick von Soll und Haben in der Bilanz, sondern auch ungehemmt mit der Gewinn- und Verlustrechnung für das Jahr 2013. Doch lesen Sie selbst, was der musikbegeisterte Kassenwart vortrug:

„Ein Jahresabschluss ist für den Musikliebhaber nur auf den ersten Blick eine trockene, technische Sache. Wenn man genau hinsieht, erklingt in dem Betrachter die Musik. Denn der Jahresabschluss folgt dem Aufbau eines Sonaten- oder Sinfoniesatzes.

Der Sonatensatz beginnt mit der Exposition. Diese besteht aus zwei Themen, nämlich einem Hauptthema und einem zweiten Thema. Auch die Bilanz hat zwei ‚Themen‘, nämlich eine Aktivseite und eine Passivseite. Insoweit entspricht die Bilanz der Exposition des Sonatensatzes.

In der Sonate folgt dann die Durchführung. In dieser werden die beiden Themen der Exposition variiert, durcheinander gewürfelt, verfremdet und mit vielen Facetten dargestellt. Sie spielt mit dem bereits Gehörten, entwickelt sich also in der Zeit.

Der Exposition entspricht im Jahresabschluss die Gewinn- und Verlustrechnung. Auch diese entwickelt sich in der Zeit, nämlich im Geschäftsjahr. Insoweit kann man präzisieren, dass der Exposition in der Sonate nicht die Jahresendbilanz, sondern die Eröffnungsbilanz entspricht, die üblicherweise im Jahresabschluss als Vorjahresbilanz ausgewiesen wird. Die Gewinn- und Verlustrechnung wirbelt die Bilanzansätze der Eröffnungsbilanz durcheinander und verändert die Sachkonten.

Am Ende steht in der Sonate die Reprise. Diese bringt die beiden Themen der Exposition wieder zum Vorschein, aber in veränderter, geläuterter Fassung. Dasselbe passiert in der Bilanz. Die Eröffnungsbilanz, die der Exposition entspricht, zeigt sich in einem veränderten Gewand als Jahresschlussbilanz. Das Geschäftsjahr in Form der Gewinn- und Verlustrechnung hat seine Spuren hinterlassen. Ist das Geschäftsjahr einigermaßen normal verlaufen, erkennt man die Bilanz des Jahresanfangs am Jahresende wieder. Ist das Geschäftsjahr gut gelaufen, hat das zweite Thema der Exposition über das Hauptthema gesiegt und die Passivseite der Bilanz hat an Schönheit gewonnen. In der Sprache der Musik ist das, jedenfalls in der Tonart Dur, das Schönheitsideal. Deshalb steht im Sonatensatz das zweite Thema in der sogenannten ‚dominanten‘, nämlich der höheren Tonart. Ist dagegen die Tonart Moll, erscheint das zweite Thema in der Subdominate, also in der Tonart darunter. Da Moll die Tonart der Traurigkeit ist, folgt ihr der Jahresabschluss, wenn das Geschäftsjahr schlecht gelaufen ist und Grund zur Traurigkeit besteht, also auch hier dem Sonatensatz.

Ist in einer Sonate oder Sinfonie die Durchführung sehr umfangreich und turbulent, sind oftmals die Themen der Exposition in der Reprise nicht wieder zu erkennen. Dies deutet entweder darauf hin, dass der Komponist sein Handwerk nicht verstanden hat oder ein Genie ist. Ähnlich ist es im Jahresabschluss. Wenn es der Geschäftsführung gelingt, ein Geschäftsjahr hinzulegen, welches die Bilanzansätze – positiv oder negativ – völlig durcheinander wirbelt, kann man bei einer positiven Entwicklung von einer genialen Geschäftsführung sprechen. Im anderen Fall sollte sich die Geschäftsführung um ihren Job fürchten.

Auch andere Prinzipien der musikalischen Gestaltung sollten bei der Rechnungslegung beachtet werden. Die Proportionen und die Harmonie müssen stimmen. Die beiden Themen der Bilanz (Aktivseite und Passivseite der Bilanz) müssen ‚zueinander passen‘. Deshalb kennen wir im Bilanzrecht besondere Regeln, etwa die goldene Bilanzregel, die besagt, dass das Anlagevermögen durch Eigenkapital und langfristiges Fremdkapital finanziert sein sollte. Bei der Auswahl des Leiters fürs Rechnungswesen sollte also das Unternehmen darauf achten, einen musikaffinen Mitarbeiter zu gewinnen, dem es am Herzen liegt, den Jahresabschluss wie eine schöne Sinfonie aussehen zu lassen.“

Den Bericht über die Kassenprüfung von Bundesbankdirektor a.D. Dr. Jürgen Müller können sie ab dem 7. November 2014 im Kiepenkerl-Blog nachlesen.

 

 

Speak Your Mind

*