Der Kiepenkerl bloggt: Jägerlatein

Otto von Bismarck soll gesagt haben: „Es wird nie so viel gelogen wie vor politischen Wahlen und nach Jagden.“ Daraus zu schließen, dass bei uns ständig gelogen wird, weil die Wahlen zu Bundes-, Landes- und Gemeindeparlamenten in verschiedenen Jahren stattfinden, ist falsch und deshalb ebenfalls gelogen.

Foto: Moritz Müller der Jüngere (1868-1934) (according to the family, see w:de:Diskussion:Moritz Müller (1841–1899)) (http://www.zeller.de/) [Public domain], via Wikimedia Commons

Das Lügen nach der Jagd ist harmloser als die Verbreitung von Halb- oder Unwahrheiten auf der politischen Bühne. Schließlich handelt es sich beim Jägerlatein um prahlerische Übertreibungen und nicht um Sünden, die gute Katholiken beichten müssten. Entlastend kommt hinzu, dass die verklärenden Darstellungen zwischen den verschiedenen Brunftzeiten merklich abflauen und während der Schonzeiten, bis auf Stammtischrunden, völlig verstummen. Die Franzosen umschreiben geschönte Jagderfolge sehr elegant mit „corriger la fortune“.

Vermutlich ist das Jägerlatein genauso alt wie die Jagd selbst, denn die Jäger der Urzeit nutzten nicht nur ihre sieben Sinne und den Verstand, sondern auch ihre Phantasie. Sie mussten sich in die Lage des zu erbeutenden Wildes versetzen, um es zu überlisten. Angesichts des häufig körperlich überlegenen Großwildes empfanden sie große Angst. Diese extreme Nervenbelastung beflügelte ihre Phantasie bei der Schilderung des Erlebten. Kein Wunder, dass sie die Jagderfolge mit heroisierenden Ausschmückungen beschrieben, denn Eitelkeit und Angeberei waren den Jägern von einst nicht weniger fremd als heute.

Auch die Bibel ist nicht hasenrein. In Psalm 42, Vers 2 heißt es: „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott zu dir!“ Vom Hirsch kennt man jedoch nur den Brunftschrei, ansonsten ist er das Jahr über nicht zu hören. Doch der Bibel deswegen Jägerlatein zu unterstellen, wäre falsch, denn schuld ist die unkorrekte Übersetzung von Martin Luther. Nach neueren Erkenntnissen sind Theologen und Sprachforscher davon überzeugt, dass der Vers lauten muss: „Wie ein Hindin (Hirschkuh), die nach Wasserlachen lechzt, so lechzt meine Seele, Gott nach dir.“ Kein überzeugter Jäger wird diesen Vers wegen der unwaidmännischen Ausdrucksweise als Tauf-, Konfirmations- oder Trauspruch akzeptieren.

Die wohl unglaublichsten Jagdgeschichten hat Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen erfunden – der Klassiker des Jägerlateins. So berichtet er, dass er dem angreifenden Wolf aus einem mechanischen Instinkt heraus die Faust so tief in den offenen Rachen stieß, dass er ihm das Eingeweide herausreißen konnte. Sinnverwandt logen bereits die Assyrer vor 3.000 Jahren. Sie stießen dem Löwen angeblich ein Stück Holz in den Rachen und schlugen ihm mit der Axt in der anderen Hand den Schädel ein.

Ähnlich, wenn auch nicht ganz so übertrieben, brüsteten sich die Pharaonen mit ihren Jagderfolgen, nachdem sie mit der vorderasiatischen Kultur auch die Jagdarten der Assyrer und deren Jagdlatein übernommen hatten. Davon zeugen zahlreiche Malereien mit heroischen Jagdszenen in Grabmalen.

Bismarck soll einmal den Schlesier so charakterisiert haben: „Sechs Tage die Woche jagt er, am siebten macht er Patronen und lügt.“ Auch trotz dieser Übertreibungen hat sich das Jägerlatein so tief ins Bewusstsein der Menschen eingegraben, dass sie sich einen Jäger ohne Jägerlatein nicht vorstellen können. Bleibt nur zu hoffen, dass die Jäger ihre Neigung zur Übertreibung, Ausschmückung und Romantisierung der Jagderlebnisse weiter praktizieren. Unbefangene werden nettes Jägerlatein immer als eine Gesprächsbereicherung empfinden. Johann Wolfgang von Goethe soll das folgendermaßen ausgedrückt haben: „So ein Ragout von Wahrheit und von Lügen, das ist eine Köcherei, die mir am besten schmeckt!“

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