Münster steht vier Tage Kopf

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Münster – Die „Flurstücke 2019“ sind am gestrigen Sonntagnachmittag zu Ende gegangen. Vier Tage war Münster im Ausnahmezustand: Die dritte Auflage der „Flurstücke  019“ rockte die Stadt und fand tausende begeisterte Zuschauer. Bei bestem Wetter zogen Theatergruppen durch die Stadt und fungierten als moderne Rattenfänger. Einige Performances waren ein wilder, anarchischer Spaß.

Grelle Parade durch die Stadt: “Bivouac” als moderne Rattenfänger – Foto: Ralf Emmerich

Die ausgelassene Stimmung hat Münster und ihre Bewohner verändert. Die Blick auf den Stadtraum hat sich verändert und forderte dazu auf einen Perspektivwechsel vorzunehmen. Die Stadt stand bildlich gesprochen für vier Tage auf dem Kopf. Am Rande der Veranstaltungen gab es viele entspannte Begegnungen und viel Austausch unter den Besuchern. Genau das hatten sich die Veranstalter gewünscht. Die Bedingungen waren geradezu optimal. Das internationale Festival für Theater, Tanz, Film und Performance im westfälischen Münster zog bei idealen sommerlichen Wetterbedingungen knapp 30.000 Besucher an.

“Flurstücke” mit den “Creatures” des Theater Titanick – Foto: Ralf Emmerich

Das vom fünfköpfigen Kurator-Team  zusammengestellte Programm zeigte nicht nur in der engeren Innenstadt um den Prinzipalmarkt, sondern auch am Aasee, in Vorstadtbezirken und im Preußenstadion, die ganze Bandbreite aktueller performativer und Installationskunst. Der ganze Satdtraum wurde bespielt. Das Programm bot eine grandiose, gut austarierte Mischung. Großer Applaus am Schluss also für Clair Howells und Uwe Köhler vom Theater Titanick, Ludger Schnieder vom Theater im Pumpenhaus, Winfried Bettmer  von der Filmwerkstatt Münster und Merle Radtke von der Kunsthalle Münster. Sie haben alles richtig gemacht.

Aufführungen für maximal 25 Besucher („Boot“ des Niederländers Vincent de Rooij) kontrastierten mit nächtlichen Straßenparaden mit über 6.000 Zuschauern („Bivouac“ der französischen Gruppe Générik Vapeur), die Sonnenuntergangsmeditation „The Curve“ der Amerikanerin Adrian Williams mit der hochenergiegeladenen Performance „Block“ der Briten von Motionhouse & NoFit State Circus. „Creatures“ von Theater Titanick und Bodytalk aus Münster brachte vor einer begeisterten Menge eine lokale Komponente ins Spiel, „Punch Agathe“, die 16 Meter hohe aufblasbare Puppe mit australisch-kongolesisch-schwäbischen Hintergrund den ganz weiten internationalen Wurf.

„Walking the Line” von Benjamin Vandewalle aus Belgien – Foto: Ralf Emmerich

Am Samstagabend rollte mit „Bivouac“ ein anarchischer, lärmender Tross wild tanzender Gestalten durch die Stadt. Die Gruppe Générik Vapeur entfachte mit Rockmusik von einem bizarren LKW und donnernden Ölfässern einen Höllenlärm. Die teuflichen Spieler in Blau, mit offensichtlichen Anleihen bei der „Blue Men Group“, entflammten ein flackendes bengalisches Feuer und mit blitzenden Scheinwerfern wurden die Salzstraße, der Prinzipalmarkt und schließlich der Domplatz in ein ganz neues Licht gehüllt.

Der Schlussakkord der skurrilen Parade fand auf dem Domplatz statt. Unter großem Applaus und Gejohle wurde eine meterhohe Wand aus Ölfässern zum Einsturz gebracht und der Durchbruch mit einem großen Feuerwerk gefeiert. Nicht ganz nachzuvollziehen war allerdings die Dramaturgie dieser spektakulären Schlussszene, da es für die Zuschauer so aussah, als wenn ein Polizeiauto die Mauer zum Einsturz gebracht hat. Ein großes Rätsel, was sich die Akteure dabei wohl gedacht haben.

Auch durchaus Sperrigeres wie die beide Ufer des Stadthafens I verbindende abendliche Licht- und Audioinstallation N1cHt Hi3r der Kölner Tim Gorinski + Paul Faltz oder die mit künstlerischen Mitteln soziale Missverhältnisse in Münster untersuchende Performance „Hide and See(k)“ von KompleX KapharnaüM aus Frankreich fanden ihr aufmerksames, lange aushaltendes Publikum.

Außerdem bestaunt und gefeiert: die Ka’et Dance Company aus Israel, „Fat Facts“ von Angie Hiesl + Roland Kaiser (Köln), „Walking the  Line” von Benjamin Vandewalle aus Belgien, das „Institut für unvorhergesehene Zusammenarbeit von Gintersdorfer/Klaßen aus Berlin, die Musik-Performance „Moondogging“ von Thies Mynther & Veit Sprenger und „Zungenbrecher – die Geste des Sprechens“, eine vielsprachige Videoinstallation von Friederike Koch & Christoph Debler.

Genau diese Vielfalt der künstlerischen Projekte sei auch in diesem Jahr wieder die Grundlage des überragenden Erfolgs der Flurstücke gewesen, resümierten die Kuratoren. Das Entscheidende aber sei die unglaubliche Zugewandtheit und Offenheit der Münsteraner und der zahlreichen auswärtigen Besucher. Die Menschen wollten solche Kunst sehen, sie wollten den öffentlichen Raum als ihre eigene Sphäre erleben und bewohnen.

Die Stadt als demokratischer Kunstort, die Stadt als Bühne der Empathie, des freien Denkens und Spielens – die „Flurstücke 019“ haben gezeigt, dass und wie das gehen kann.

Die nächste Ausgabe der „Flurstücke“ ist für 2023 geplant.

 

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