Auf der anderen Seite des Meeres

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Recklinghausen – Aktueller kann Theater kaum mehr sein: Es reibt sich an Widersprüchen der Gegenwart und bezieht Position. Streitbar, kompromißlos und durchaus auch schmerzhaft in seinen Folgerungen und Forderungen. So soll es sein. Die Zuschauer können dabei weder unbehelligt noch unbeteiligt bleiben. Die Ruhrfestspiele Recklinghausen bringen in diesem Jahr unter dem Leitmotiv “Mare Nostrum” mehrere Stücke zur aktuellen Flüchtlingspolitik auf die Bühne. So politisch wie heuer waren die Ruhrfestspiele lange nicht mehr!

Schauspiel Leizig bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen: Die Schutzflehenden/Die Schutzbefohlenen - Fotos: Bettina Stoess

Schauspiel Leipzig bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen: Die Schutzflehenden/Die Schutzbefohlenen – Fotos: Bettina Stoess

Die Inszenierung von “Die Schutzflehenden/Die Schutzbefohlenen” verbindet das 2500 Jahre alte Drama von Aischylos mit dem Flüchtlingsstück der österreichischen Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek.

Zahlreiche Theater haben sich bereits mit dem polemischen Stück von Elfriede Jelinek auseinandergesetzt und fast immer zu heftigen Diskussionen Anlaß gegeben. In Dresden fand eine Premiere des Stückes unter Polizeischutz statt. Bei den Ruhrfestspielen wird die aktuelle Inszenierung des Schauspiel Leipzig gegeben, in der zum ersten Male Aischylos und Jelinek miteinander verbunden wurden. Es ist ein spannender Brückenschlag, den Regisseur Enrico Lübbe vorgenommen hat. Agitatives Sprechtheater mit allem Schauwert, den nur eine Theaterbühne hergeben kann. In einem kargen Bühnenbild, das einen an ein rostendes Schiffswrack und zugleich an eine kaum überwindbare Grenze erinnert, agiert ein Chor – mal in einer antiken Tragödie, dann als eine Art Musical inszeniert, das von trashigen und schrillen Nummern unterbrochen wird. Lübbe nutzt alle Showeffekte, ohne indes den Text zu verraten und sein Ziel aus den Augen zu verlieren.

Schauspiel Leizig bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen: Die Schutzflehenden/Die Schutzbefohlenen

Schauspiel Leipzig bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen: Die Schutzflehenden/Die Schutzbefohlenen

Entstanden ist ein großartiger Theaterabend, der seine eindringliche Wirkung vor allem aus dem hochemotionalen, sprachgewaltigen und zugleich klugen Text von Elfriede Jelinek zog. Jelinek geht mit ihren Sprachspielen den Worten auf den Grund, legt ihre tiefere Bedeutung offen  – manchmal ist das durchaus banal, oft aber auch mit frappierendem Erkenntnisgewinn. Der Chor der Flüchtlinge ist mit mehr als 50 Laiendarstellern sowie einigen Schauspielstudenten besetzt. Sie werden präzise dirigiert, so dass der Text eine beeindruckende Intensität entfaltet.

Das Publikum applaudierte am Ende frenetisch, auch wenn der Abend anders ausging als gewohnt. Der “Eiserne Vorhang”, der Anfang und Ende des Stückes, die unüberwindbare Grenze symbolisierte, blieb minutenlang geschlossen, so als verweigerte sich damit das Ensemble dem Applaus. Die Schauspieler und Sprecher wurden also nicht in der “Wirklichkeit” der Bühne gefeiert, sondern sie betraten “in zivil” den Zuschauerraum durch einen Seiteneingang. Es sollte eine deutliche Zäsur zwischen Kunst und Wirklichkeit geben, der unüberhörbare Appell zu mehr Menschlichkeit und Offenheit gegenüber den Asylsuchenden nicht einfach verwischt werden.

Die Doppelinszenierung von “Die Schutzflehenden/Die Schutzbefohlenen” macht die historische Dimension des Umgangs mit Flüchtlingen und Asylsuchenden deutlich. Während Aischylos am Ende das Volk zum Asyl für die Dana-Töchter befragen will und dafür die Zustimmung erhält, ist der Ausgang für die “Schutzbefohlenen” – ganz wie in der Wirklichkeit – noch offen und ungesichert. Es gibt Widerstand von vielen Seiten.

Elfriede Jelinek bezieht in ihrem Stück sarkastisch Position gegenüber der Haltung Österreichs und der Bevölkerung zu jenen Flüchtlinge, die im Herbst 2012 in einem Protestmarsch ins Zentrum von Wien gezogen waren, um auf die prekäre Situation im österreichischen Auffanglager Traiskirchen aufmerksam zu machen. Sie konfrontiert das Publikum stellvertretend für die Gesellschaft mit ihrer Wut, ihrem Unverständnis und vor allem der Verzweiflung der Flüchtlinge. Damit sind auch wir gemeint, die wir Flüchtlinge im eigenen Land haben.

Schauspiel Leipzig bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen: Die Schutzflehenden/Die Schutzbefohlenen

Schauspiel Leipzig bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen: Die Schutzflehenden/Die Schutzbefohlenen

Die Aufführung von “Die Schutzflehenden/Die Schutzbefohlenen” kommt ausgerechnet zu einem Zeitpunkt zur Aufführung, da die Bedingungen für Flüchtlingen in ganz Europa noch einmal verschärft worden sind. Die Balkan-Route von Griechenland aus ist versperrt. Slowenien, Mazedonien und Östereich haben ihre Grenzen dicht gemacht. Sie zeigen den Asylsuchenden die kalte Schulter. Ungarn und Polen verweigern sich einer europäischen Lösung und wollen keine Flüchtlinge aufnehmen. Auf dem Mittelmeer verlieren wieder hunderte von Menschen auf ihrer Flucht vor Krieg, Terror und Verfolgung ihr Leben. Das Lager im griechischen Idomeni wird aufgelöst. Im eigenen Land gibt es eine rasant wachsende Zahl von Anschlägen und Übergriffen auf Flüchtlinge und Flüchtlingsunterkünfte.

Die Flüchtlinge sind längst zum Spielball und Faustpfand von kalten Machtinteressen einerseits und rassistischen Umtrieben andererseits geworden. Das, warum diese bei uns in Europa um Asyl flehen wird längst ausgeblendet. Die Menschlichkeit ist auf der Strecke geblieben – fast erscheint es so, als wenn die Kälte und die Ablehung, die den Flüchtlingen im Westen entgegenschlagen, die Verlängerung des Terrors in ihren Heimatländern ist. Elfriede Jelinek hält dem Zuschauer den Spiegel vor.

Bei Aischylos fliehen die Töchter des Danaos mit ihrem Vater von Ägypten über das Mittelmeer nach Griechenland. Der Grund: Sie sollen mit den Söhnen des Aigyptos vermählt werden, wollen sich dem aber entziehen. Erreichen sie Argos, bringen sie dort König Pelasgos in eine unappetitliche Situation. Er muss sich entscheiden, ob er einen Krieg mit dem mächtigen Ägypten riskiert oder das Sakrileg begeht, Schutzflehenden Asyl zu verweigern. In der griechischen Polis war so etwas undenkbar, also gewährt der wankelmütige Pelasgos den Danaiden dann doch Asyl.

Elfriede Jelineks Part wird zu einem einzigen Klagelied. Der Chor skandiert in den zum Teil schrill wechselnden Szenen nur einen einzigen Vorwurf. Der Sprechgesang richtet sich an uns alle. “Wir leben. Wir leben. Hauptsache, wir leben, und viel mehr ist es auch nicht als leben nach Verlassen der heiligen Heimat. Keiner schaut gnädig herab auf unseren Zug, aber auf uns herabschauen tun sie schon. Wir flohen, von keinem Gericht des Volkes verurteilt, von allen verurteilt dort und hier. Wir versuchen, fremde Gesetze zu lesen. Man sagt uns nichts, wir erfahren nichts, wir werden bestellt und nicht abgeholt, wir müssen erscheinen, wir müssen hier erscheinen und dann dort”, ruft der Chor zu Beginn. Die Schutzbefohlenen werden nach ihrer Flucht weiter hin und hergestoßen, entmündigt. Es geht nicht mehr um Menschen, Individuen und Persönlichkeiten. Das Asylrecht wird außer Kraft gesetzt, Menschenrechte mit Füßen getreten. Ein skandlöser Zustand. Die Schlußzeile bleibt im Gedächtnis hängen: “Wir sind angekommen – aber wir sind gar nicht da!” Der enthaltene Vorwurf ist wohl verstanden worden. (Dr. Jörg Bockow)

 

 

 

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