Stimmen lassen in die Seele blicken

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Westfalen – “Sänger ohne Schatten von Boris Nikitin, gerade während der diesjährigen Ruhrtriennale in der Halle Zweckel in Gladbeck uraufgeführt, gibt sich als ein kühnes Theater-Experiment. Was auf der Bühne passiert ist als ein Recherche-Projekt angelegt, dem die Zuschauer freundlicherweise beiwohnen dürfen. Die Stoffsammlung scheint noch nicht fertig. Man befindet sich noch mitten im Prozess. In der Maschinenhalle Zweckel ist dafür eine Art Black Box errichtet, die bis ins Detail eine karge Studiobühne simuliert.

Das Trio bei der tatsächlichen Probenarbeit zu "Sänger ohne Schatten" - Foto: Ruhrtriennale

Das Trio bei der tatsächlichen Probenarbeit zu “Sänger ohne Schatten” – Foto: Martina Neu/Ruhrtriennale

Wenn man das kleine, intim wirkende Studio betritt ist man ein wenig enttäuscht, dass das imposante Industriegebäude ausgeblendet ist und nicht einmal als Kulisse dienen darf. “Sänger ohne Schatten” wirkt als eine Performance oder besser als work-in-progress. Doch das Stück ist bis in Kleinste inszeniert und durch ein Skript festgelegt. Text und Spiel oszillieren zwischen Spiel und Wirklichkeit. Auch der Moment der Überraschung ist Teil der Inszenierung. Das Theater oder besser die Sänger reflektieren sich selbst.

Kabel blicken aus der Wand. Studio-Tore sind mit Signalband umklebt. Eine karge Moblierung bestimmt das Bild: ein paar billige Stühle, eine Leinwand, ein Videoprojektor. Kostüme liegen in einem Pappkarton. Ein Korrepetitor hat einem Klavier Platz genommen. Auf Zuruf intoniert er berühmte Opernarien. Der Zuschauer sollen offensichtlich sehen und miterleben können, wie hier ein Stück erarbeitet wird.

Aran Armstrong tritt während der Aufführungen im Rollstuhl auf. Während der Probenarbeit erlitt sie einen Bandscheibenvorfall. - Foto: Ruhrtriennale

Karan Armstrong tritt während der Aufführungen im Rollstuhl auf. Während der Probenarbeit erlitt sie einen Bandscheibenvorfall. Dennoch wollte sie ihre Rolle spielen und von ihren Erfahrungen “berichten”. – Foto: Ruhrtriennale

Das Projekt “Sänger ohne Schatten” beschäftigt sich mit der Persönlichkeit der Sänger und der Frage, inwieweit Performance und Stimme durch Erfahrung und Erleben gefüllt werden. Können wir als Zuhörer in die Seele der Sänger blicken? Gelebtes Leben und Erfahrung hören? Was ist Schein, was die Wirklichkeit? Was die Rolle und was die Wahrheit? Im Mittelpunkt steht die Opernstimme, die sich wie aus dem Nichts zu beinahe überwältigendem Volumen und differenzierter Ausdruckskraft entfalten kann.

Drei Opernsänger und ein Pianist wenden sich uns zu. Sie sprechen über ihr Leben als Sänger, sie singen, alleine oder gemeinsam, auch der Pianist greift gelegentlich ein. Sie erzählen von ihrem Beruf, ihrem Körper als Instrument und wie diese Arbeit sie verändert.

Zusammen mit Korepetitor und Pianist  werden die Stücke ausgewählt. - Foto: Ruhrtriennale

Zusammen mit Korrepetitor und Pianist Stefan Wirth werden die Stücke ausgewählt. – Foto: Martina Neu/Ruhrtriennale

Wir lernen drei Persönlichkeiten kennen: die amerikanische Sopranistin Karan Armstrong, ehemals prima donna der Deutschen Oper Berlin, Christoph Homberger, den Schweizer Tenor, bekannt durch seine unkonventionellen Arbeiten mit Herbert Wernicke und Christoph Marthaler, und den deutschen Countertenor Yosemeh Adjei, der bei der Ruhrtriennale 2012 in Europeras 1 & 2 von John Cage zu erleben war.

Sie sind die Protagonisten des Abends: eine unwahrscheinliche Kombination dreier höchst bemerkenswerter Sänger, dreier Stimmtypen, dreier Lebensalter, dreier Berufswege und zugleich dreier Experten der Gefühlsreproduktion.

Der Schweizer Regisseur Boris Nikitin inszeniert dies als eine scheinbar zufällig Szene. Unterbrechungen und scheinbar Unvorhergesehenes vermitteln den Eindruck von ungekünstelter Wirklichkeit und einer Szenerie, die von der Spontaneität der drei Personen bestimmt ist. Mitunter verlaufen die Handlungen parallel als wenn sich der eine überraschend und spontan aus der Szene zurückzöge. Unvermittelt verläßt Homberger das Studio, um – als mache er gerade Mittagspause – mit einem Teller voller Spagettis zurück zu kommen. Überraschend: Mit vollem Mund singt er plötzlich seinen Part. Ein gewollter Bruch mit der Wirklichkeit und einer jener Momente, die die Szene durch einen Überraschungsmoment zu brechen scheint. Das Publikum goutiert diese Momente mit Schmunzeln und Gelächter. In ihnen offenbart sich die Doppelbödigkeit des Spiels und zugleich sind es Momente, die das schauspielerische Können beinahe zum explodieren bringen.

Immer wieder gibt das Stück die Gelegenheit, die Wirkung der Stimmen zu erleben – mal pur und rein, dann gebrochen durch eine Mikronfonübertragung oder gar durch eine Life-Video-Einspielung. Nicht nur der Klang verändert sich, sondern auch ihre Tiefe und Ausdruckskraft. Das vermeintlich spontan Experiment entpuppt sich spätestens als eine ausgeklügelte Inszenierung, wenn mitten in der Szene die Black-Box sachte und zuerst kaum wahrnehmbar an die Hallendecke entschwebt und plötzlich dann doch die ganze Maschinenhalle als Theaterbühne zur Verfügung steht.

Yosemeh Adjei und Christoph Homberger singen ihre Partien nunmehr in wechselnden Positionen in der Tiefe der Halle, zuerst unverstärkt mit eingeheurem Stimmvolumen und dann mit Hilfe eines Mikrofons und einer Verstärkeranlage, die die Stimme von Christoph Homberger verändert und schließlich sogar deutlich vernehmbar modifiziert. Auch hier tut sich die Frage auf, was ist nun Fiktion und was Wirklichkeit?

Boris Nikitin gelingt ein vielschichtiges, schillerndes Spiel mit der Welt der Opernbühne und mit der Rolle der Sänger, die das Geschehen erst mit ihrem Vermögen zum Leben erwecken. Für Fans des Musiktheaters war dies ein ebenso vergnüglicher wie erhellender Abend. (Jörg Bockow)

www.ruhrtriennale.de

 

 

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