Westfalen – Beim letztjährigen Tanzfestival in Avignon hat das Stück mehrheitlich Begeisterung ausgelöst. “Enfants” von Boris Charmatz wurde schon als d a s Tanzstück des 21. Jahrhunderts gefeiert. Grund genug, es auch bei der diesjährigen Ruhrtriennale 2012 in der Jahrhunderthalle in Bochum zu zeigen.
Doch ganz so wie in Frankreich war die Reaktion des hiesigen Publikums nicht. Es gab neben anhaltendem Applaus durchaus aufgebrachte Buhrufe und aufgeregte Proteste, zu sehr ging der Blick auf die bedrohte Kindheit manchem Zuschauer an die Nieren. Wiewohl niemand im Auditorium die gute Absicht, die Botschaft gar, in Frage stellen mochte. Vielmehr tat sich für einige Zuschauer eine krasse Diskrepanz zwischen Zweck und Mittel auf. Ein durchaus nachvollziehbarer und naheliegender Schluß. Dürfen Kinder in der Weise von einem Choreagraphen und Spielleiter benutzt werden, um die Botschaft in einer derartig intensiven Weise auszudrücken?
Das Stück ist eigentlich schnell wiedergegeben. Die Bilder reduzieren sich im Kern auf ein paar sehr magere, ja plakative Statements. Kinder werden von Erwachsenen geformt – im wahrsten Sinne des Wortes. So gesehen hat Erziehung nach Charmatz etwas Deformierendes. Kinder werden ganz sinnfällig vorgeführt und nach unserem Ebenbild geformt. Der Clou des Stückes ist, dass am Ende die Kinder die Macht übernehmen – aber statt eines kreativ-fröhlichen Wechsels und einer freudvollen Machtübernahme, wiederholen die Kinder am Ende das, was ihnen selbst angetan wurde. Ihre Bewegungen sind um keinen Deut besser. Also kein Befreiungsschlag, sondern die Fortsetzung der Deformation – im schlimmsten Fall bis zum bitteren Ende. Dem Tod. Die kultur-kritische Pointe des Boris Charmatz?
“Enfants”, das Tanzstück für neun Tänzer, drei Maschinen und 17 Kinder spielt auf einer düsteren, abstrakten und karg gestalteten Bühne. Die drei Maschinen verkörpern eine undefinierte Macht, die im Hintergrund schaltet und waltet. Niemand scheint dahinter zu stecken. Menschen sind jedenfalls nicht als Maschinenführer zu sehen. Eine Metapher also für eine alles überformende Obrigkeit? Einen Diktator gar?
Eine der Maschinen besteht aus einem Krahn, der ferngesteuert über die Bühne schwenkt und mit einer Art Haken oder Anker, einige reglos auf der Bühne liegende Tänzer aufgreift wie ein Monster und in seinen Mechanismus einverleibt. Mit einer Seilwinde wird einer der Tänzer an den Haken genommen. Assoziationen an einen Schlachthof tun sich auf. Doch statt geschlachteter Rinder oder Schweine baumelt reglos ein Mensch am Seil. Er wird aufgezogen und abgelassen als würde die Maschine sich mit ihm einen Spass erlauben. Ganz ähnlich ergeht es der bewegungslos daliegenden Tänzerin, die von auf einem sich aufrollenden Fließ über die Bühne auf ein Laufband gezogen und förmlich von der Maschine aufgesogen wird. Schließlich landen alle drei Tänzer nach einem absurden Plan der Maschine auf einer stampfenden Rüttelplatte, die ihre Körper vibrieren lässt, ja sie förmlich hochwirft und sie dadurch “Deus ex Machina” zum Leben zu erwecken scheint.
Plötzlich tauchen aus dem Nichts weitere Tänzer auf, ganz in schwarz gekleidet, die ihrerseits scheinbar leblose Körper von Kindern auf die Bühne tragen. Schrittweise bemächtigen sich die Tänzer der Kinder und beginnen sie zu formen, zu bewegen, biegen und verbiegen. So entpuppt sich, was wie eine Umarmung aussehen soll, als eine brachiale Inbesitznahme. Die Kinder werden auf Händen getragen und wie ein Sack auf dem Rücken geschleppt, aber auch wie erlegtes Wildbret auf die Bühne gezogen und gezerrt – mal an einem Arm, mal nur an den Beinen. Es sind unangenehme Bilder, die sich einem im Gedächtnis festsetzen.
Die Geräuschkulisse wechselt. Es kommt Musik aus dem Off. Zuerst vom Band. Michael Jackson wird angespielt. “Billie Jean” löst bitter-zarte Assoziationen an den Pop-Titanen auf, dem nachgesagt wird, dass er pädophile Verhältnisse hatte und sich an Kindern vergriffen hat. Ein Umschwung in der Dramaturgie findet mit einem realen Dudelsackspieler statt, der wie ein “Rattenfänger von Hameln” die Bühne betritt. Schrill wie Sirenengeheul sind seine Tonfolgen. Die Szenerie kehrt sich um. Die Erwachsenen erliegen erschöpft ihrem Spiel, taumeln kraftlos umher und sinken schließlich wie tot auf die Bühne, während die Kinder zu neuem Leben erweckt über die Bretter laufen, springen und toben.
Am Ende sind es die Kinder, die sich der Tänzer annehmen und sie wie Puppen bewegen. Doch Ende und Ausblick erscheinen seltsam düster und aporetisch: Die Kinder werden eine wirkliche Befreiung nicht schaffen. Das Ende des Stückes ist so nihilistisch und niederschmetternd wie viele der Bilder, die Charmatz als Metapher auf die Erziehung auf die Bühne gebracht hat. (Jörg Bockow)
Die Ruhrtriennale gilt als eines der aufregendsten Festivals in Europa: Das International Festival of the Arts, präsentiert vom 17. August bis zum 30. September einmal mehr ausgesuchte Theater-, Opern- und Tanzproduktionen sowie Musikveranstaltungen. Nach den gefeierten Intendanzen von Gerard Mortier, Jürgen Flimm und Willy Decker empfiehlt sich in diesem Jahr Heiner Goebbels als der neue Spielleiter für den Dreijahresrhythmus des Festivals. Seine mit Spannung erwartete Inszenierung der selten gespielten Oper „Europeras 1 & 2“ von John Cage ist Auftakt der Triennale und zugleich die Visitenkarte des neuen Intendanten. Zu sehen sind außerdem die Carl-Orff-Oper „Prometheus“, „When the mountain changed its clothing“ und viele andere spektakuläre Aufführungen, Events, Performances und Ausstellungen.
Das Festival nutzt beeindruckende Industriedenkmale und historische Werkhallen wie die Jahrhunderthalle Bochum, stillgelegten Zechen und ausgediente Kraftwerke zwischen Rhein und Ruhr als einzigartige Spielstätten und schafft damit neue Formen der künstlerischen Auseinandersetzung. In diesem Jahr sind über 30 Produktionen geplant, darunter 20 Uraufführungen, Neuproduktionen und Deutschlandpremieren. Für die rund 100 Vorstellungen wurden mehr als 900 Künstler eingeladen, unter anderem aus Neuseeland, New York, Tel Aviv, Brüssel oder Warschau.
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