“Wer entscheidet in Westfalen”

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wh – Norbert Lammert ist trotz seiner politischen Karriere in Berlin seiner Heimatstadt immer verbunden geblieben: In Bochum hat der Präsident des deutschen Bundestages nicht nur studiert und eine Familie gegründet, sondern auch seine politische Laufbahn bei der CDU begonnen. Seit 1980 gehören weite Teile der Ruhrgebietskommune zudem zu seinem Wahlkreis für den Bundestag. Im Interview spricht Norbert Lammert über Lokalpatriotismus, seinen Bezug zu Westfalen und die Kulturlandschaft im Ruhrgebiet.

Foto: Deutscher Bundestag/Lichtblick/Achim Melde

Herr Bundestagspräsident, Sie haben einmal über Ihre Wohnorte Bochum und Berlin gesagt, dass Sie den Wechsel zwischen “den beiden schönsten deutschen Städten” sehr genießen. Was macht Bochum zur schönsten deutschen Stadt?!
Norbert Lammert: Diese Frage hat Herbert Grönemeyer in seinem Lied “Bochum” besser beantwortet als ich es je könnte. Ich halte mich an den Satz, dass Bochum zwar keine Stadt zum Träumen ist, aber meine Heimat, in der ich mich zu Hause fühle und wo ich immer wieder gerne bin.

Wenn man hier durch Wattenscheid geht, was zu Ihrem Wahlkreis gehört, fällt einem vielmehr die große Herausforderung auf, die der Strukturwandel noch immer mit sich bringt.
Natürlich ist der Strukturwandel noch lange nicht abgeschlossen und er wird nach wie vor durch den notorischen Eigensinn der Ruhrgebietsstädte erschwert. Leider ist deren Rivalität stärker ausgeprägt als die Bereitschaft, das Potential der ganzen Region in die Waagschale zu legen.

Im Kulturhauptstadtjahr schien es ein Umdenken zu geben.
Das Kulturhauptstadtjahr war die glanzvolle Ausnahme von der Regel. Die Bewerbung war deshalb erfolgreich, weil sich eine ganze Region zur Wahl gestellt hatte. Essen, Bochum oder Dortmund alleine wären nie Europäische Kulturhauptstadt geworden. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass die Beteiligten daraus lernen und ihre Lektion nachhaltig verinnerlichen. Leider gab es unmittelbar nach 2010 die unübersehbare Neigung, wieder in die alten Reflexe zurückzufallen.

Würden Sie sich als Lokalpatrioten bezeichnen?
Selbstverständlich. Aber wie Sie meinen Aussagen über Bochum vielleicht entnehmen, schließt meine Neigung zur Selbstironie auch die eigene Kommune mit ein.

Welche Rolle spielt für Sie Westfalen?
In den vergangenen 60 Jahren sind in unserem Bindestrichland Nordrhein-Westfalen drei Landsmannschaften entstanden: die Rheinländer, die Westfalen und die Ruhris. Wenn Sie die Leute hier am Bahnhof in Wattenscheid fragen, wo sie herkommen, erhalten Sie als Antwort “aus Buer”, “aus Steele” oder “aus Langendreer”. Vor Ort bieten die Stadtteile das größte Identifikationspotential. Wenn Sie allerdings die selben Leute am Strand von Mallorca fragen, wo Sie herkommen, würden die meisten antworten, sie kommen aus dem Ruhrgebiet. Ich glaube, kein Essener und kein Bochumer sagt, er komme aus dem Rheinland beziehungsweise aus Westfalen.

Sie waren Ihrer Heimat immer sehr verbunden. Heute leiden das Ruhrgebiet und Teile Westfalens darunter, dass viele junge Leute in andere Regionen ziehen. Was spricht dafür, hier zu bleiben?
Es bleiben ja durchaus einige hier – jedenfalls wenn sie hier studieren und im Anschluss eine Beschäftigungsperspektive vorfinden. In einer Region, die sich im tiefgreifenden Strukturwandel befindet, ergreifen aber gerade junge und mobile Leute auch auswärts ihre Chancen, statt darauf zu warten, dass sich irgendwann die Verhältnisse vor Ort bessern. Das ist für die Region eine zusätzliche Problemlage, aber aus Sicht der Betroffenen mehr als verständlich.

Sie besuchen regelmäßig Theater, Festivals und Konzerthäuser. Haben Sie angesichts knapper Kassen und Sparzwängen Angst um die Kulturlandschaft in der Region?
Angst ist übertrieben, aber ich bin besorgt. Kulturausgaben gehören rechtlich betrachtet zu den freiwilligen Ausgaben der Kommunen, für die keine gesetzliche Verpflichtung besteht. Da ist die Versuchung groß, in Zeiten der Konsolidierung öffentlicher Haushalte an dieser Stelle zu sparen. Im Ruhrgebiet befindet sich kaum eine Kultureinrichtung in Landesträgerschaft. Das ist in Berlin ganz anders. Wenn wir nicht wollen, dass unsere Kulturlandschaft durch die kommunalen Finanzprobleme verödet, müssen wir über neue Trägerschaften nachdenken.

Sie haben vor kurzem das “Vaterunser” neu übersetzt. Die von Stefan Heucke vertonte Version wurde in der Bochumer Christuskirche uraufgeführt.
Die Idee ist nicht so ungewöhnlich, wie sie vielen erscheint. Wir wissen doch gar nicht, wie die mündlich überlieferte, erst viele Jahre später schriftlich gefasste Originalversion des „Vaterunser“ lautet. Bekannt sind nur Übertragungen ins Griechische, Lateinische und von dort in zahlreiche Nationalsprachen. Bei einem Text, der so tief im Bewusstsein verwurzelt ist, besteht immer das Risiko, dass er rituellen Charakter bekommt und nicht mehr hinterfragt wird. Die Neufassung sollte das ändern. Übrigens gilt diese Gefahr, dass bei bekannten Texten kein Nachdenken mehr stattfindet, auch für Nationalhymnen – und ich denke, selbst das Westfalenlied dürfte von diesem Risiko nicht gänzlich frei sein.

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