Ruhrtriennale: “Kleine Seelen”

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Für einen Moment sieht es so aus als brächten sie endlich den Mut auf und all ihre Kraft zusammen, um sich von den Fesseln ihrer unbewältigten Vergangenheit zu befreien. Sie könnten endlich das Leben führen, dass sie sich seit Jahren und Jahrzehnten gewünscht hatten. Leben und Lieben und einfach glücklich sein. Für einen Moment sprudelt aus zarten Annäherungen und neuen Paar-Konstellationen eine Quelle der Hoffnung. Ein Ausbruch. Ein zarter Keim. Allerdings eine Ahnung nur.

“Kleine Seelen” von Ivo de Hove mit Chris Nievelt und Robert de Hoog – Fotos: Jan Versweyveld

Denn am Ende fallen Mutter Constance und Vater Henri sowie Sohn Addy wieder in ihre kummervollen und schwermütigen Umstände zurück. Sie sind zu kraftlos, um wirklich radikal mit der Vergangenheit zu brechen und ein neues Leben zu beginnen. Sie trauen sich nicht, weil sie auch Angst vor dem Urteil der Leute haben.

Allerdings wollen sie sich nach dem Ausbruch ihrer unbefriedigten Sehnsüchte mit ihrem Schicksal versöhnen. Sie sind gescheitert zwar, aber sie sind gewillt sich mit ihrem Leben abzufinden. Wenn nicht das große Glück und die rauschende Ekstase, dann reichen vielleicht die familiären Bande, die Bereitschaft sich auszusprechen und die Fähigkeit Kompromisse einzugehen. Nach und nach entwickeln sie – für sich allein und gemeinsam – Strategien, um behutsam einer Lösung der Krise, einer Wendung zum Besseren näher zu kommen. Im Gegensatz zu früher finden sie in kleinen Schritten den Mut, offener über ihre Enttäuschungen, über ihre Sehnsüchte und Erwartungen zu sprechen. Allein Marietje kann sich von den Schatten ihrer Vergangenheit lossagen. Sie verlässt konsequent das düstere Psychohaus. Eine erotische Beziehung zu Addy ist aussichtslos. Ihre Alpträume nach dem Selbstmord ihres Vaters will sie abstreifen und ein neues Leben beginnen.

“Kleine Seelen” spielt in einer Art Wintergarten

„Kleine Seelen“, von Ivo de Hove inszeniert und während der diesjährigen Ruhrtriennale uraufgeführt, ist nach einem Roman des niederländischen Autors Louis Couperus entstanden. In Deutschland sind dessen Werke nahezu unbekannt. In den Niederlanden hat er den Rang eines Nationaldichters. „Die Bücher der kleinen Seelen“ schrieb Couperus zwischen 1901 und 1903, in der unruhigen  Übergangszeit vom 19. zum 20. Jahrhundert. Bei der Ruhrtriennale ist „Kleine Seelen“ nach den Inszenierungen von 2015 und 2016 das dritte Mal, dass sich Ivo de Hove mit einem Roman von Louis Couperus beschäftigt. Ivo de Hove ist erneut ein Meisterstück gelungen. Eine echte Bravourleistung des Theaters. An diese Aufführung wird man sich noch lange erinnern. “Kleine Seelen” war eines der vielen Highlights, die die dreijährige Intendanz von Johan Simons zu bieten hatte. Gerade erst ist die Spielzeit zu Ende gegangen.

Am Ende bleiben in “Kleine Seelen” alle buchstäblich auf dem Teppich

Ivo de Hove hat das Stück ins Hier und Jetzt transponiert, um das Publikum unmittelbar und direkt anzusprechen. Man kann sich dem Gefühlstaumel, in dem die Figuren erschüttert und hin- und hergerissen werden, kaum entziehen. Die Frage nach dem richtigen Leben und der Bedeutung der Vergangenheit, mag jeden bewegen. Die Frage steht im Raum: Führt man wirklich das Leben, das man sich ausgesucht und gewünscht hat oder ist alles nur reine Zeitvergeudung?

Das Drama um die „Kleinen Seelen“ wird wie eine Familienaufstellung inszeniert. Sie lässt viele Assoziationen zu eigenen Erfahrungen zu. Es entfaltet sich gewissermaßen eine zweistündige Therapiesitzung, die einen als Zuschauer nicht kalt und unbeteiligt bleiben lässt. Das Publikum wird in den Strudel der unterschiedlichen Gefühle, Fragen und Selbstzweifel gezogen. Mitunter ist es so als bekäme man mit den „Kleinen Seelen“ einen Spiegel vorgehalten.

Ein spärliches Bühnenbild reicht Ivo de Hove für sein Familiendrama. In der Mitte der Bühne liegt ein gewaltiger grüner Teppich, rundherum befinden sich Galerien und Balkone, auf denen sich die Schauspieler zurückziehen und ausharren können. Pflanzen und kleine Bäume lassen Assoziation an einen großen Wintergarten aufkommen. Die Szenen gehen nahtlos ineinander über. Sie werden sehr dicht und berührend umgesetzt. Die Wirkung wird durch einen tranceartigen Live-Sound unterstützt, der von Harry de Wit mit Klavier, Klarinette und einer Windmaschine eingespielt wird. Die Musik tritt nie in den Vordergrund. Sie ist wie der Soundtrack eines Spielfilms angelegt, der Akzente setzt und die Stimmungen untermalt. Durch die Musik und die Geräusche scheinen die Szenen zu schweben. Ivo de Hove setzt dies als ein extrem wirkungsvolles Stilmittel ein.

Allein Marietje kann sich von den Schatten ihrer Vergangenheit lossagen. Sie verlässt konsequent das düstere Psychohaus.

Das Ensemble der Toneelgroep Amsterdam spielt mit einer unglaublichen Intensität und großer Präsenz. Chris Nietvelt, Maria Kraakman, Hans Kesting, Steven van Watermeulen, Robert de Hoog, Noortje Herlaar, Hélène Devos, Frieda Pittoors bilden eine intim interagierende Gruppe, der man zu jeder Zeit alle Facetten des Gefühlsspektrums abnimmt. Man spürt, dass die Gruppe sich gut kennt und aus gemeinsamen Erfahrungen zehren kann. „In ‚Kleine Seelen‘ erleben wir, wie eine Gemeinschaft von kranken, erschöpften, resignierten Menschen langsam geheilt wird. Menschen, die mit kleinen Schritten versuchen, glücklich zu sein, zu leben versuchen“, kommentiert Ivo de Hove seine Inszenierung.

Die Familiengeschichte spielt in einem einzigen Raum, beinahe ganz ohne Requisiten. Ivo de Hove kann sich voll und ganz auf das Spiel und die ungeheure Authentizität seines Ensembles verlassen. Die Szenenfolge findet im Wintergarten eines großen Hauses etwas abseits von Den Haag statt. Vom Leben und Treiben der Großstadt ist hier nichts zu spüren. Die Familie hockt wie auf einer einsamen Insel oder wie in einem Gefängnis aufeinander. Der Wechsel der Jahreszeiten befeuert die Szenerie mit zusätzlichen Emotionen. Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter spielen herein – mal als eisiger Wind oder Sturm, der um das Haus heult und mal als wärmendes Sonnenlicht, das die vereisten Seelen ein wenig auftauen lässt.

Die Van der Welckes sind eine Großfamilie aus drei Generationen, die das Schicksal zu einer Art Leidensgemeinschaft zusammengeführt hat. Mutter Constance beklagt in düsteren Selbstgesprächen ihr versäumtes Leben. Vater Henri, der zweite Mann von Constance, sehnt sich nach einem automobilen Geschwindigkeitsrausch und spielt zur Beruhigung Schach. Beide kuscheln sich kindlich in den Schoss ihres Sohns Addy, eines Arztes, der sich erschöpft auch um die beiden Töchter von Constance’ verstorbenen Bruder Gerrit kümmert. Addy kann bei all seiner Verantwortung seiner lebenslustigen Frau Mathilde Smeets nicht das Leben bieten, das sie sich wünscht. Zudem fühlt sie sich ablehnt von den anderen Mitgliedern der Familie. Mathilde stellt Addy eifersüchtig zur Rede, weil der sich so einfühlsam um Marietje kümmert. Marietje wird von Alpträumen geplagt, kommt nicht zur Ruhe und findet keinen Schlaf.

Die Dynamik des Familiendramas entfaltet sich mit hochdramatischen Gefühlswallungen und –explosionen. Ausbrüche und Fluchtbewegungen deuten sich an. Mit der Ankunft von Van der Welckes früherem Kommilitonen Brauws bricht bei Constance die Sehnsucht nach Leidenschaft und Erotik auf. Nach einsamen Jahren in Amerika scheint auch dieser in Constance etwas zu sehen, das die Chance auf eine gemeinsame Zukunft bietet. Ihn übermannen Leidenschaft und Erotik.

Mit einmal droht die Familie auseinanderzufallen. Alle werden von geradezu unheimlichen Fliehkräften erfasst. Aber es sind nur kurze Momente, die bei allen unterdrückte Sehnsüchte aufbrechen lassen. Sie bleiben folgenlos. Keiner mag Entscheidungen fällen und den nächsten Schritt zu gehen, alle bleiben bildlich gesprochen auf dem Teppich. Brauws verschwindet so plötzlich wieder wie er aufgetaucht ist. Constance ist wieder auf sich selbst zurückgeworfen. Die Familie bleibt geschüttelt und erschüttert aber irgendwie auch geläutert beisammen. Erste Versuche miteinander zu sprechen erscheinen wie ein zarter Silberstreif am Horizont. Warmes Licht strömt von außen herein als ginge langsam die Sonne auf. Vielleicht geht das Leben doch nur in kleinen, vorsichtigen Schritten? (Jörg Bockow)

www.ruhrtriennale.de

 

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