Textil total im Textilmuseum Bocholt

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Bocholt – Mit der alten Spinnerei Herding als zusätzlichem Standort ist das Textilmuseum des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) in Bocholt in eine neue Dimension gewachsen. In der neuen Ausstellung „Die Macher und die Spinnerei“ geht es um die Geschichte und die Produkte der westfälischen Textilunternehmen und -unternehmer.

Mit der Nähe zu den niederländischen Häfen und dem feuchten Klima war das Münsterland ein idealer Standort für Baumwollwebereien, zumal die Flachs- und Leinenweberei in der Region tradtionell stark verbreitet war. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden in der ländlich geprägten Region hunderte von Textilfabriken – oft waren die Firmengründer Bauernsöhne, die von Höfen stammten, auf denen die Leinenweberei als Nebenerwerb betrieben wurde. Einen Großteil ihrer Produktion lieferte die münsterländische Textilindustrie in das naheliegende Ruhrgebiet, darunter praktische karierte Baumwolltücher, mit denen die Bergleute sich unter anderem den Kohlenstaub abwischen konnten – die “Grubentücher“.

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Die alte Spinnerei Herding ist neuer, zusätzlicher Standort des LWL-Textilmuseums in Bocholt – Foto LWL/Holtappels

In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist ein Großteil dieser Textilunternehmen verschwunden – die kostengünstigere Konkurrenz aus dem Ausland und der Druck großer Produzenten machte den meisten mittelständisch geprägten familiengeführten Textilfabriken im Münsterland den Garaus. Das Textilmuseum des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe in Bocholt zeichnet die Geschichte der münsterländischen Textilindustrie eindrucksvoll nach – unter anderem durch den Betrieb von historischen Webstühlen und die Produktion vom “Grubentuch Baumwolle” auf diesen historischen Maschinen.

Nach elfmonatigem Umbau ist der zweite Standort des zum Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) gehörenden Textilmuseums in Bocholt seit Ende September dauerhaft für das Publikum geöffnet. Auf zwei Ebenen und 2.500 Quadratmetern Ausstellungsfläche präsentiert das Museum unter seinem neuen Namen TextilWerk in den behutsam renovierten Maschinensälen der ehemaligen Spinnerei Herding Geschichte und Wirken der Textilunternehmer in Westfalen. Parallel dazu zieht hochkarätige zeitgenössische Kunst in das mehr als 100 Jahre alte Gebäude ein. Auch ein Veranstaltungsraum mit Platz für bis zu 600 Personen und ein Dachcafé gehörten zu dem neuen Museumskomplex.

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Der neue Museumsteil bietet genügend Platz für große alte Textilmaschinen – demnächst auch in Aktion – Foto LWL/Holtappels

Bei der Vorstellung des neuen Museumsteils Ende September erläuterte LWL-Direktor Matthias Löb, dass der LWL im Rahmen des Regionale-2016-Projektes „kubaai“ (Kulturquartier Bocholter Aa und Industriestraße) weiter kräftig in das Textilmuseum Bocholt investieren will: Die Keimzelle des Museums, die historische Weberei mit den Arbeiterhäusern, und die Spinnerei würden im nächsten Jahr durch eine Brücke über die Aa miteinander verbunden, so dass Besucher in wenigen Minuten von einem Museumsteil zum anderen laufen können. „Dann wollen wir die bisherigen Hinterhöfe unserer Häuser zu einladenden, öffentlichen Plätzen gestalten. Wir wollen an der Weberei ein sogenanntes Family-Lab bauen – einen Mix aus Themenspielplatz, Experimentierstationen, überbetrieblicher Ausbildung und Forscherlaboren“, erläuterte Löb weiter. „Und wir wollen ein Archiv der Textilmuster einrichten, das zum Treffpunkt für die Designszene werden könnte.“ Damit werde das Textilwerk zum Herzstück des neuen Stadtquartiers.

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Kleidungsstücke, teilweise wieder zu Fäden verwirkt – textile Kunst im IndustrieWerk – Foto LWL/Holtappels

Am neuen Standort präsentiert das Textilmuseum Teile seines großen Fundus textiler Musterbücher und Originalkleidung aus der Zeit zwischen 1880 und 2000. „Diesen Bereich der Ausstellung werden wir regelmäßig erneuern“, kündigte Museumsdirektor Dirk Zache an. Eine Etage höher lernen Besucher auf einer Fläche von 900 Quadratmetern die Welt der westfälischen Textilunternehmer kennen. „Die Macher, die heute wie vor 150 Jahren Entscheidungen treffen, Produkte entwickeln oder neue Vertriebswege aufbauen, rücken mit dieser Ausstellung erstmals ins Zentrum“, so Zache.

Textile Erinnerungen – Remembering Textiles
In einem weiteren Spinnsaal im zweiten Obergeschoss, dem sogenannten Atelier Industrie, ist vom 2. Oktober 2016 bis zum 29. Januar 2017 die Sonderausstellung „Textile Erinnerungen l Remembering Textiles“ mit Werken der Künstlerinnen Gali Cnaani aus Israel und Kaoru Hirano aus Japan zu sehen. Beide verbindet ihr radikaler Ansatz, Kleider bis auf die Fäden aufzulösen und mit den offengelegten Strukturen Neues zu schaffen. Hirano verknüpft die Fäden wieder so, dass sie eine schemenhafte Skulptur formen – in Reminiszenz an die ehemaligen Trägerinnen. Cnaani hingegen verwebt die in ihre Strukturen aufgelösten Kleider wieder neu und verbindet sie dabei mit anderen Kleidungsstücken. Daraus entsteht eine überraschende Ästhetik, die das Textile als Sprache offenbart. „Auf unterschiedliche Weise spüren so beide Künstlerinnen den Erinnerungen der Textilien nach, den ehemaligen Trägerinnen oder dem Gedächtnis des Materials selbst“, erklärt Kurator Martin Schmidt, wissenschaftlicher Referent des LWL-Industriemuseums.

Über 500 Exponate haben die Ausstellungsmacher für diesen Teil der neuen Ausstellung in Szene gesetzt: Zu sehen ist beispielsweise der Schreibtisch des Textilunternehmers Carl Herding, den er Anfang des 20. Jahrhunderts gekauft hat und über viele Jahrzehnte hinweg benutzte. Eine Quittung für einen gebrauchten Konzertflügel und ein preisgünstiges Modell eines Füllhalters verweisen darauf, dass die Firmenbosse der Region zwar auf globalen Märkten agierten, in der Heimat jedoch eher bescheiden lebten. Auch die ausgestellten Unternehmerporträts zeugen weniger von Prunk als vielmehr von der Verpflichtung gegenüber der Familientradition. Alte Firmenbücher, Geschäftskorrespondenz und Fotos von Fabrikantenvillen runden das Bild ab. Die Ausstellung bleibt aber nicht in der Vergangenheit stehen: An einem Medientisch mit Touch-Bildschirm in der Tischplatte kommen 14 Unternehmer aus der Region zu Wort. Besucher können ihren Antworten auf Fragen zu Motiven, Entscheidungen und Einschätzungen zuhören.

Die Ausstellung in der alten Spinnerei verzahnt die Lebens- und Geschäftswelt der Unternehmer mit der Produktion. Deshalb präsentiert das LWL-Textilmuseum teils gewaltige Maschinen aus seiner Sammlung. „Das sucht in diesem Umfang in Europa seinesgleichen“, schwärmt Martin Schmidt, der als wissenschaftlicher Referent an der Gestaltung des neuen Museumsteils beteiligt ist. Einige der Relikte aus der historischen Textilproduktion wurden in den vergangenen Jahren aufwendig restauriert und wieder funktionstüchtig gemacht.

Die bis zu knapp 20 Meter langen Maschinen – vom Öffnerzug aus dem Jahr 1910 bis zur OE-Feinspinnmaschine von 1986 – dienten alle der Herstellung von Baumwollgarnen. So produziert das Textilmuseum auf den historischen Anlagen sogenannte “Grubentücher” aus Baumwolle, die im 19. und 20. Jahrhundert in großer Menge von den münsterländischen Textilfabriken an die Bergwerke im Ruhrgebiet verkauft wurden und dort für Reinigungszwecke aller Art verwendet wurden. Die praktischen Tücher eigenen sich aber auch hervorragend zum Abtrocknen von Geschirr und kann man online im Westfalium-shop bestellen. Medienterminals zeigen historische Aufnahmen und erklären die Funktionsweise der Spinnmaschinen. „Einige dieser Maschinen werden wir unseren Besuchern regelmäßig vorführen“, kündigt der TextilWerk-Leiter Dr. Hermann Josef Stenkamp an.

TextilWerk Bocholt – Spinnerei, Industriestr. 5, 46395 Bocholt, Öffnungszeiten Di-So und Feiertage 10:00-18:00 Uhr, Tel. 02871/216110, www.lwl-industriemuseum.de

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